Beschreibung
Der Dichter kann lediglich aus seinen Versen verborgene Nester bauen, die nur jene entdecken, die nach Worten und nach keimenden Samenkörnern suchen. (.) An meinem Fenster fährt gerade ein Auto vorüber, in dem nur der Fahrer sitzt. Er trägt Maske und hält die Fenster geschlossen, obwohl die Frühlingssonne wärmt. Draußen un- ter der Dachrinne desselben Hauses spielt sich etwas eigentlich weit Schrecklicheres ab. Ein riesenhafter Rabe hat den Augenblick genutzt und sich aus dem Nest eines Drosselpaares eines der nackten Jungen geschnappt, die mit aufgesperrten Schnäbeln die Fütterung erwarten. Der Rabe verschlingt es im Flug, während ihn der Singvogel, der mir die Brotkrumen fast aus der Hand frisst, besinnungslos angreift. Um uns her, weit weg oder in der Nähe, findet beinahe ununterbrochen ein unsichtbares Massaker statt. Viren, Bakterien, Insekten, Vögel, Menschen und unerfüllte Träume werden ständig von den Raben der Gier und des Hungers geraubt und vertilgt. (.) Ich glaube, wir werden noch lange Masken tragen, selbst wenn sie nicht mehr nötig sind! Der Mas- kenzwang ist in Amerika vielerorts aufgehoben worden, aber die Leute laufen immer noch maskiert herum. Ich entsinne mich, wie sehr ich mich vor Jahren wunderte, wenn ich Menschen auf Flughäfen oder ganze Reisegruppen mit Schutzmasken sah, welche die alten Städte Europas oder die neuen Amerikas besichtigten. Anfangs dachte ich, sie trügen sie wegen einer möglichen Pollen- oder Pflanzenallergie oder als Schutz gegen den Staub einer allzu alten oder allzu neuen Geschichte. Die Masken erschienen eher wie ein Schutzschirm gegen die Umgebung. Nun sind wir soweit, dass wir sie alle tragen, als Teil einer Pflicht- uniform. Ich hatte mich daran gewöhnt, an Blicken und Stimmen Menschen zu erkennen, die aus einem anderen Territorium kamen. Jenem der Angst. Wenn wir nicht aufpassen, könnte die Maske zum Zubehör unserer Alltagskleidung werden. Zur Klei- dungsroutine wie die Krawatte für Männer oder hochhackige Schuhe für Frauen. Adrian Sângeorzan
Autorenportrait
Sorin Bijan ist in Rumänien geboren und lebt in der Stadt Temeswar/Timisoara, wo er auch die Kunsthochschule besucht hat und 2017 von der West-Universität/Universitatea de Vest zum Doktor der bildenden Künste promoviert wurde. Er ist Mitglied des Verbandes der Bildenden Künstler Rumäniens, lehrt an der Kunst- und Designfakultät Temeswar, beteiligt sich an zahlreichen künstlerischen Projekten und arbeitet verschiedenen Kultureinrichtungen zu, welche Kunst und junge Künstler fördern. Im Jahre 2015 wird ihm im Rahmen des Salons der Bildenden Künste Temeswar der Große Preis Primus Inter Pares verliehen. 2016 erhält er vom Bürgermeisteramt des Munizipiums Temeswar den Exzellenzpreis für seinen Beitrag zum Kulturleben der Stadt. Sorin Bijan war an nationalen und internationalen Kunst-Workshops beteiligt und hat in Rumänien und im Ausland eigene und Gemeinschaftsausstellungen bestritten. Seine Arbeiten befinden sich in rumänischen und ausländischen Privatsammlungen.