Beschreibung
Mitten im Wald führen die Schwestern Maria und Regina Holzapfel ein karges, archaisches Leben; ohne Strom, ohne technische Errungenschaften schlagen sie sich durch. Wir schreiben das Jahr X nach dem Kollaps, was den Kollaps herbeiführte, lässt der Roman offen, aber es gibt kein gemeinsames Narrativ mehr, der Mensch ist in Moshammers Geschichte sich selbst überlassen. Doch eines Tages bekommen die Schwestern unerwarteten Besuch: Halbschwester Sarah stößt zu ihnen und erbittet hochschwanger Einlass. Das Leben der Schwestern ändert sich schlagartig, Sarah bringt den kleinen Adam zur Welt, Maria entdeckt durch das Kind die Liebe, Regina versinkt noch mehr in Verzweiflung. Die Jahre vergehen, da meldet sich eines Tages auch Adams Vater, der Felsenreiter, zurück. Ihm gehört ein Bordell, und er entführt den Fünfjährigen, um ihm ein Leben in der Stadt zu ermöglichen, wo der Bub von den Mädchen der Sunshine Bar erzogen wird. Die Holzapfelschwestern verlassen den Wald, um nach ihm zu suchen, aber sie passen nicht in die ihnen fremde Welt. Als Adam seine Bezugspersonen nach und nach verliert, wird seine Sehnsucht nach dem Wald und seinen Tanten immer größer. Ein ungewöhnlicher und extrem starker Roman. Was ist der Mensch ohne den zivilisatorischen Fortschritt? Ohne gefestigte gesellschaftliche Übereinkünfte, in die man hineingeboren wird und an die man sich hält?
Autorenportrait
Bernhard Moshammer Geb. 1968 in St. Pölten, lebt in Wien, schreibt Romane und Musik für Theaterstücke (u. a. "Hotel Strindberg", 2018, sowie "John Gabriel Borkman", 2015, Regie: Simon Stone, oder "Die Stühle", Regie: Claus Peymann/Leander Haußmann, 2019, Akademietheater Wien). "Die Holzapfel Schwestern" ist sein sechster Roman.
Leseprobe
Evelina Holzapfel war eine Frau, die stets tat, was zu tun war, ohne sich zu beklagen oder ihr Schicksal in Frage zu stellen. Sie war so ruhig, dass ein zweifelhafter Arzt das Kind, das sie einst war, als stumm bezeichnet hatte. Es war aber keine Krankheit, sie hatte einfach nichts zu sagen. Mit vierzehn Jahren, kurz nach dem Kollaps, war sie von ihren Eltern, Bauersleuten, mehr oder weniger verkauft und formlos an ihren angeblichen Cousin verheiratet worden. Seitdem bewohnte sie diese Hütte und sollte nie wieder ins Dorf zurückkehren. Alles, was sie zum Leben brauchte, baute sie selbst an. Zwischen den Buchen, Eichen, Eschen, Birken und Tannen standen ein Apfelbaum, ein Birnbaum und jede Menge Sträucher - Dirndl, Ribisel, Brombeere und Holunder. Gemüse wucherte im Überfluss. Ihr Mann wilderte im Wald oder stahl Kleintiere von den umliegenden Höfen, Evelina verarbeitete die Kadaver zu Fleisch, Speck, Würsten und Schmalz oder Felldecken für den Winter. Alles, was sie aus dem Dorf brauchte, besorgte ihre große Schwester, der sie jedoch nie mehr gegenübertreten durfte. Ihr Mann hatte es von Anfang an so angeordnet, also wurde eine Stelle am Waldrand vereinbart, von der aus gerade noch Blickkontakt zum Hof der Schwester bestand. Evelina musste stets warten, bis es dunkel war, mit einer Fackel Kontakt aufnehmen, die Schwester machte in ihrer Küche das Licht aus und wieder an, drei Mal, dann stellte Evelina einen Korb mit Gemüse und Obst - Geld hatte sie keines - sowie einer mit jedem Jahr schwerer zu echiffrierenden Einkaufsliste ab und kehrte wieder um. Vierundzwanzig Stunden später holte sie den mit der bestellten Ware gefüllten Korb wieder ab. Zu Beginn war es ihr schwer gefallen, die Schwester nicht zu treffen, sie nicht zu küssen und zu umarmen, vielleicht etwas von draußen zu erfahren, aber sie war erzogen zur Pflichterfüllung, hatte sich bald an die neuen Lebensbedingungen gewöhnt und so war da bald keine Schwester mehr - nur noch drei kleine Lichtzeichen am Horizont. Für Gefühlsduseleien war im Wald kein Platz.