Wir erinnern uns zurück ans Ende des Sommers 2016: Der Brexit war noch lange nicht beschlossen, Trump als Präsident war für viele nur ein unvorstellbares Horrorszenario und Klein-Alwin fing gerade mit seiner Ausbildung im Buchhandel an. Die literarische Landschaft wurde derweilen vom Bestseller des Jahres und seiner mysteriösen Schriftstellerin durchzogen. "Meine geniale Freundin", unter dem Pseudonym Elena Ferrante veröffentlicht, traf den Geschmack vieler Leser*innen und heimste eine lobenswerte Kritik nach der anderen ein. Innerhalb der vier Jahre gab es etliche Übersetzungen ihrer Werke aus dem Italienischen und auch etliche angebliche Klärungen ihrer Identität.
Nun erschien ihr neuster Roman und wer die vierbändige Neapolitanische Saga gelesen hat, weiß, wie fesselnd und wie subtil Ferrante in wenigen Sätzen tiefgründige Charaktere und deren Verhältnisse zueinander erschaffen kann. Unsere Protagonistin Giovanna ist 13 Jahre alt, berichtet uns im Tagebuchstil und stolpert gerade durch die Pubertät. Als ihre Noten in der Schule deutlich schlechter werden, überhört sie ihre Eltern, die sie mit ihrer garstigen und gar abscheulichen Tante vergleichen. Aber was wenn sie ihre Eigenschaften geerbt hat? Werden sowohl ihr Körper als auch ihr Geist abgrundtief hässlich? Was bleibt der jungen Giovanna also anderes übrig als eben jenes Familienmitglied selbst aufzusuchen und sich ein eigenes Bild zu machen? Jeder der sieben Romanabschnitte lüftet nach und nach familiäre Geheimnisse, lässt aber auch immer wieder neue entstehen. Giovanna entdeckt die Welt der Erwachsenen und lernt dabei selbst erwachsen zu sein, mit allem was dazu gehört. Ein mitreißendes Familiendrama mit einer Spur weniger Telenovela-Drama als in den Vorgänger-Bänden. "Diesen Absatz könnte man hervorragend vorlesen", war ein Gedanke, der mir des Öfteren beim Lesen kam. Das Buch hat mich absolut begeistert, ein bisschen was zu bemängeln habe ich aber schon: Die Übersetzung einiger italienischer Redewendungen ist nicht immer ganz geglückt und eine Karte der Region wäre bei der Vielzahl an Ortsbezeichnungen teilweise auch nützlich gewesen. Giovanna schreibt mit ihren 13+ Jahren schon auf einem nicht ganz glaubwürdigen, sehr hohen Niveau, aber auf ebendiesem meckere ich ja hier auch gerade. Lest es also bedenkenlos!
Eine Besprechung von Alwin