Beschreibung
Eine packende Familiengeschichte über vier Generationen von einem der bedeutendsten isländischen Erzähler "Eine fremde Frau kommt aus Vaters Schlafzimmer..." Der kleine Junge, der erst vor kurzem seine Mutter verloren hat, muss ein neues Wort lernen: Stiefmutter. "Jetzt bist du erledigt", sagen seine Spielkameraden, und weil Vater meist mit seiner Maurerkelle auf Baustellen unterwegs ist, flüchtet sich der Junge mit seinen Zinnsoldaten in eine märchenhafte Welt: Ganze Armeen helfen ihm, seine Einsamkeit niederzuringen. Zuwendung erfährt er von der Großmutter, die ihm abenteuerliche Geschichten von ihren Eltern erzählt: Der verwegene, einem guten Tropfen nie abgeneigte Urgroßvater war ein unsteter Abenteurer, der seine Familie mit riskanten Unternehmungen fast zugrunde gerichtet hätte. Als der sinnenfreudigen Urgroßmutter die Eskapaden ihres Mannes zu bunt wurden, begann sie sich heimlich mit einem Kapitän zu treffen. Die lyrisch-bildhaften Sprache des erwachsenen Erzählers fängt die Welt seiner Kindheit und Familie auf einfühlsame und humorvolle Weise ein. Eine Familiengeschichte, die existentielle Themen wie Liebe, Zeit und Vergänglichkeit in farbenfrohe, lebensbejahende Szenen umsetzt.
Leseprobe
Die Einsamkeit weckt ihn. Nicht wie ein schwerer Schlag, sondern wie ein leises Ziehen, das im Moment des Aufwachens zu einem Schmerz anwächst. Viele Tage sind vergangen, seit er an ihrer Seite eingeschlafen ist, müde, erschöpft, glücklich, in der schönsten Nacht des Lebens. Am Morgen danach war sie verschwunden. Nicht nur aus seinem Leben, sondern ebenso aus der Stadt. Sie ist davongefahren und hat die Laternenpfähle stehen lassen. Ist davongefahren und hat sämtliche Vorfahrtsschilder zurückgelassen, die Häuser in der Weststadt, alle Bürgersteige; sie ist weggefahren, und vergeblich preisen die Kinos ihre Filme in Cinemascope an, denn sie ist weg, auf und davon. Weg von der Hringbraut, weg von SkaftahlÃð, dem ganzen SkaftahlÃð-Hügel, besonders aber weg von einer Kellerwohnung, wo er in tiefer Trauer liegt. Davongelaufen nach Westen in die Fjorde, wohin genau, soll er nicht in Erfahrung bringen, die in SkaftahlÃð dürfen ihren Aufenthaltsort nicht preisgeben. Ihre Abwesenheit macht jeden Sack Zement doppelt schwer. Er geht noch einmal zu ihrem Haus, um sich zu erkundigen, trifft aber nur den Dichter, der gerade dabei ist, zu packen. "Nichts zu tun hier, die Frau in Norwegen, weiß auch nicht, was ich eigentlich hier gesucht habe. Das Mädchen? Nein, keine Ahnung. Verschwunden, sagst du. Ja, mir brauchst du nichts zu erzählen, ich weiß, wie das ist. Mit den Gedichten geht es einem genauso. Sobald man glaubt, sie aus der Tiefe hervorgeholt zu haben und sie mit Händen greifen zu können, verschwinden sie, lösen sich auf und lassen einen allein zurück. Ich beneide dich um deine Arbeit, junger Mann, der Zement lässt den Sand nicht im Stich, und gemeinsam verbinden sie sich zu Beton; bald erhebt sich ein Haus. Du hast es gut." Blödsinn, er hat es überhaupt nicht gut, der Junge aus dem Osten, und er hat nicht das geringste Interesse an den Schwierigkeiten des Dichters mit seinen Worten; er ist nichts weiter als ein Maurerlehrling, und jeder Tag ein neuer Foltermeister. Ihr Geruch ist aus dem Bettlaken verflogen, die Milch versauert im Kühlschrank, die Zementsäcke werden immer schwerer, bald wird die Erdkruste unter ihm einbrechen. "Zum Teufel damit, Junge, vergiss sie!", sagen die Freunde und schleppen ihn gegen seinen Willen mit zu einem Besäufnis. "Lass sie, wo der Pfeffer wächst", sagen sie und begreifen nichts, nicht das Geringste. Sie vergessen? Reiß einem Vogel den Flügel aus und beobachte dann seinen Flug. Nach viel zu viel Wodka-Cola setzt er sich von seinen Kumpanen ab. Es ist Nacht. Irgendwo auf der Grettisgata übergibt er sich, ruft auf der Snorrabraut ihren Namen und auch die halbe Karlagata entlang, bis jemand ein Fenster öffnet und schreit: "Halt endlich das Maul da unten!" Da knickt er zusammen, wird zu Schnee, einem Haufen Schnee auf dem offenen Feld von Klambratun. Der Mond segelt zwischen den Wolken hervor, wirft sein weißes, kaltes Licht über die Stadt. Der junge Mann klingelt in SkaftahlÃð, hält seinen Finger auf die Klingel gedrückt, obwohl er vor meiner Großmutter mächtig Respekt hat, klingelt lange, und das Klingeln ist wie ein Notruf in der Nacht. Die Hosen voll, aber trotzig steht er dann vor Großmutter, einer hochgewachsenen, stolzen Frau, die genau vierzig Jahre später in Hveragerði sterben wird, nachdem ihr die Zeit übel mitgespielt hat. Sie hält den Morgenrock um sich zusammen, nicht eine Spur von Mitleid in den Augen. Ihr ganzer Zorn kommt in der Beschreibung dieser nächtlichen Ruhestörung zum Ausdruck. Aber gibt es überhaupt etwas zu beschreiben? Der Junge ist einfach fix und fertig. Nach dem klaren Frost draußen ist die Luft im Hausflur heiß und stickig. Ihm wird flau und ein wenig schwindlig, und so kann er nichts erklären. Er öffnet den Mund, aber nur ein Name kommt heraus. Dann beißt er die Lippen zusammen, blass wie ein Laken, kämpft gegen einen Anfall von Übelkeit, presst die flachen Hände fest gegen die Wand, um das rasende Drehen der Erde zu brems ...
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