Nichts, was tragisch wäre

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783421042194
Sprache: Deutsch
Umfang: 128 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 20.5 x 13 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

„Dass beim Schreiben über Schreibblockaden oft ganz wunderbare Bücher entstehen, beweist Heike Geißler mithin ein weiteres Mal.“ Stuttgarter Zeitung „Skurrile Idee, mit sanfter Erzählweise wunderbar umgesetzt.“ Hamburger Morgenpost „Hier [wird] die alte Geschichte vom Eigenleben literarischer Figuren auf eine nicht gerade leichte, aber reizvolle Art erzählt.“ Deutschlandradio Kultur

Autorenportrait

Heike Geißler wurde 1977 in Riesa geboren. Sie studierte Germanistische Literaturwissenschaft und Philosophie in Dresden, München und Halle und lebt heute in Leipzig. Neben einigen Literaturstipendien wurden ihr 2001 der »Alfred-Döblin-Förderpreis« und der »Förderungspreis des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst« für ihr erstes Romanprojekt verliehen. Das Buch erschien unter dem Titel »Rosa« 2002 bei DVA.

Leseprobe

Manche Angelegenheiten dulden keinen Aufschub, müssen an Ort und Stelle geklärt werden. Wider Erwarten bin ich nicht vom Dach gesprungen, denn die Gewissheit der vorangegangenen Tage ist mir entwischt. Ginge ich jetzt nach Hause und legte mich hin, um mich von der Anstrengung zu erholen, geriete ich sicher in Versuchung, so zu tun, als wäre nichts gewesen, als hätte ich nur geträumt, auf dem Hochhaus gestanden zu haben. Etwas ging dem Jetzigen voraus, etwas hat schnurstracks hier hingeführt, aber ich weiß nicht recht, was das ist. Dennoch reihte ich, weil es nötig ist, weil ich nicht gern ahnungslos bin, die Dinge gern in Folge. Ich bin aber etwas erstaunt! Denn wie ich so herumgehe, hier meine Runden drehe, will mir wirklich gar nichts in den Sinn, das ein Grund für das Jetzige sein könnte. Es ist, als hätten sich alle vergangenen Geschehnisse und Begegnungen verflüchtigt, als hätte ich noch kein bisschen gelebt. Also, ich gehe meine Runden auf dem Flachdach des Hochhauses und sage: Sie geht Runden auf dem Flachdach des Hauses und fragt sich, wie es wohl kam, dass sie sich auf dem Dach des Hauses befindet und dazu ein schönes Kleid trägt, in dem sie friert, weil es nicht für kalte Herbstnächte gemacht ist und auch nicht für luftige, windige Höhen. Sie benötigt eine Geschichte! Ich kann besser von mir sagen, dass ich auf dem Dach eines Hauses bin, wenn ich sage: Sie befindet sich auf dem Dach des Hauses. Das ist eine Notwendigkeit, ein kleiner Trick, um die Dinge in Folge reihen zu können. Von dem Trick ist äußerlich nicht viel zu sehen. Allenfalls ein leichtes Sichkratzen der Stirn und ein Blicken ins vermeintlich Leere und ein vorfreudiges Lächeln, aber nicht einmal ein Wechseln der Gesichtsfarbe. Der Vorteil des Tricks ist, dass ich nun rutsche in einen Zustand, der mir besser gefällt. Nun habe ich nämlich alles im Blick. Ich sehe sie, um die es vor allem geht, und ich sehe die Stadt, um die es auch geht. Mich aber sehe ich nicht, was natürlich nicht ganz richtig ist, aber Teil des Tricks und Quäntchen der Wahrheit. Ich bin nicht zugegen und dennoch allhier; ich reihe die Dinge in Folge. Die, um die es geht, dreht Runden auf dem Dach des Hochhauses. Sie meidet die Nähe der Ränder, blickte nur einmal, sich vorsichtig nach vorn beugend, über den Rand, in die Lücke zwischen Hauswand und Baugerüst und konnte wegen der Dunkelheit den Boden nicht sehen. Sie spricht vor sich hin und gestikuliert dazu und weist mit einem schnellen Fingerzeig in die Straße, in welcher sich ihre Wohnung befindet. Jahre, sagt sie, liegen zwischen hier und dort. Als wäre ich nicht einfach Stufen gestiegen, sondern ohne Schuhe und Proviant lange gewandert. Sie blickt an sich hinunter, rafft den Rock des Kleides, um nicht auf den Saum zu treten. Sie weiß, dass das Kleid zur Schneiderin zurückgebracht werden muss, um zum Kauf angeboten zu werden. Vielleicht hat jemand in etwa ihre Maße und lässt sich verlocken von der Vorstellung, ein Kleid zu haben wie Dorothy Hale, zumindest eines, dessen Vorlage das gemalte Kleid der Dorothy Hale war. Sie hat das Kleid sogar verbessern lassen, damit es seine Form behält. Ihr Kleid ist, anders als das der Dorothy Hale, mit Reifen versehen, um voluminöser und bauschig zu sein. Sicher hätte sie die Hände an die Seiten drücken müssen, um den Rock im Flug zu fixieren und nicht an den Beinen entblößt zu Boden zu kommen. Es ist ein Kleid aus schwerem, dunklem Stoff, der befestigt ist an den mit Stäbchen und Reifen verstärkten Unterröcken. Unter den Unterröcken befinden sich zahlreiche Futterstoffschichten. Sie hat kein billiges Futter gewählt. Hat vielmehr von der Schneiderin sehr gute Stoffe besorgen lassen, sich nicht um den Preis gekümmert, denn es schien ihr das Ereignis, dessen zweiter Hauptakteur das Kleid hatte sein sollen, eine gute Reklame und folglich eine gute Bezahlung für die Schneiderin zu sein. Nun aber sind die Umstände wohl vorerst andere. Natürlich, sagt sie, das war doch zu erwarten. Oder Leseprobe