Lissabonner Requiem

Eine Halluzination

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446201736
Sprache: Deutsch
Umfang: 165 S., 20 farbige Illustr., 20 Illustr.
Format (T/L/B): 2 x 20.5 x 12.6 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Eine hinreißende Liebeserklärung an Lissabon, seine Cafés, seine Museen, seine Friedhöfe, seine Menschen, verfasst von einem der größten Bewunderer dieser Stadt. Antonio Tabucchi beschreibt wieder einmal den fließenden Übergang zwischen Traum und Wirklichkeit, Realität und Fiktion.

Autorenportrait

Antonio Tabucchi (1943-2012), eine der bedeutendsten Stimmen der europäischen Literatur, war Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Essays und Bühnenstücken und Herausgeber der italienischen Ausgabe der Werke Fernando Pessoas. Er lehrte Portugiesische Sprache und Literatur und schrieb für zahlreiche italienische und ausländische Zeitungen. Sein Werk wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt und mit vielen wichtigen Preisen ausgezeichnet, darunter der Premio Campiello, der Prix Médicis Etranger, der Prix Européen de Littérature und der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur. Bei Hanser erschienen u.a. Lissabonner Requiem (2002), Es wird immer später (Roman in Briefform, 2002), Tristano stirbt (Roman, 2005), Die Zeit altert schnell (Erzählungen, 2010), Die Autobiographien der anderen (Über die Bücher und das Leben, Edition Akzente 2013), Für Isabel (Ein Mandala, 2014), Reisen und andere Reisen (2016) und Geschichten zu Bildern (2019).

Leseprobe

Die Nacht ist warm, die Nacht ist lang, die Nacht ist wunderbar dazu geeignet, daß man sich Geschichten anhört, sagte der Mann, der sich neben mich auf den Sockel der Statue von Don Jose setzte. Es war wirklich eine wunderbare Nacht, eine warme und milde Vollmondnacht, die etwas Sinnliches und Magisches hatte, auf dem Platz waren fast keine Autos, die Stadt stand gewissermaßen still, die Leute waren wohl an den Stränden geblieben und kamen später zurück, der Terreiro do Paço lag einsam da, ein Fährschiff tutete, bevor es ablegte, seine Lichter waren die einzigen, die auf dem Tejo zu sehen waren, alles war reglos, als sei es verzaubert, ich sah meinen Gesprächspartner an, er war ein dünner Landstreicher mit Tennisschuhen und einem gelben T-Shirt, er hatte einen langen Bart und war fast kahl, er war wohl ungefähr in meinem Alter oder etwas älter, auch er sah zu mir her und hob mit einer theatralischen Geste den Arm. Das ist der Mond der Dichter, sagte er, der Dichter und der Geschichtenerzähler, das ist eine ideale Nacht, um sich Geschichten anzuhören, aber auch, um welche zu erzählen, möchten Sie nicht eine hören? Und warum sollte ich mir eine Geschichte anhören? sagte ich, ich sehe keinen Grund dafür. Es gibt einen ganz einfachen Grund, antwortete er, es ist eine Vollmondnacht, und Sie sitzen hier ganz allein und betrachten den Fluß, Ihre Seele ist einsam und hat Sehnsucht, und eine Geschichte könnte Sie fröhlich stimmen. Ich habe den ganzen Tag Geschichten gehört, sagte ich, ich glaube nicht, daß ich noch welche brauchen kann. Der Mann schlug die Beine übereinander, stützte mit nachdenklicher Miene das Kinn auf die Hände und sagte: Eine Geschichte kann man immer brauchen, auch wenn es nicht so aussieht. Aber warum sollten gerade Sie mir eine Geschichte erzählen? fragte ich, das verstehe ich nicht. Weil ich Geschichten verkaufe, sagte er, ich bin ein Geschichtenverkäufer, das ist mein Beruf, ich verkaufe selbsterfundene Geschichten. Das verstehe ich nicht, sagte ich. Hören Sie, sagte er, das wäre eine lange Geschichte, aber die will ich Ihnen heute nacht nicht erzählen, für gewöhnlich spreche ich nicht gern von mir, ich spreche lieber von meinen Personen. Nein, nein, protestierte ich, Ihre Geschichte interessiert mich, erzählen Sie mir etwas von sich. Da gibt es nicht viel zu erzählen, sagte der Geschichtenverkäufer, ich bin ein gescheiterter Schriftsteller, das ist meine ganze Geschichte. Entschuldigen Sie, sagte ich, aber ich verstehe Sie wirklich nicht, wollen Sie mir nicht etwas mehr erzählen? Nun, sagte er, ich bin Arzt, ich habe Medizin studiert, aber Medizin war nicht die Wissenschaft, die ich studieren wollte, als Student habe ich die Nächte damit verbracht, Geschichten zu schreiben, dann habe ich promoviert und angefangen, meinen Beruf auszuüben, ich habe begonnen, in einer Beratungsstelle zu arbeiten, aber ich langweilte mich mit meinen Patienten, ihre Fälle interessierten mich nicht, mich interessierte vielmehr, an meinem Schreibtisch zu sitzen und Geschichten zu schreiben, ich habe nämlich eine blühende Phantasie, die ich nicht im Zaum halten kann, sie ergreift von mir Besitz und zwingt mich, Geschichten zu erfinden, alle Arten von Geschichten, tragische, komische, dramatische, fröhliche, oberflächliche, tiefsinnige, und wenn sich meine Phantasie entfesselt, kann ich fast nicht mehr leben, ich beginne zu schwitzen, fühle mich schlecht, bin unruhig und durcheinander, ich sitze da und denke an meine Geschichten, nichts anderes hat mehr Platz. Leseprobe