Beschreibung
So unterschiedlich Theorien über Kulturen auch ausgefallen sind, eines hatten sie oft gemeinsam: das Misstrauen gegenüber dem Begriff des Realen. Girard war es immer unbegreiflich, wie leichtfertig eine solch zentrale Kategorie preisgegeben werden konnte. In einer Reihe von Aufsätzen, die sich mit Nietzsche, der Bibel, Richard Wagner oder Dostojewskij beschäftigen, führt er vor, wie Theorie sich überhaupt erst aus dem Bezug auf das Reale entwickeln kann. Ein gelehrter Außenseiter meldet sich da zu Wort, der der Wirklichkeit gegen die Flüchtigkeit modischer Theorien zu ihrem Recht verhilft.
Autorenportrait
René Girard (1923-2015) lehrte seit 1947 als Professor für Französische Sprache, Literatur und Kultur an der Stanford University in Kalifornien. Er war Mitglied der Academie Française.Sein Werk Das Heilige und die Gewalt (1972) nahm großen Einfluß auf die Religionsgeschichte und Kulturanthropologie. Bei Hanser erschienen: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums (2002), Die verkannte Stimme des Realen. Eine Theorie archaischer und moderner Mythen (2005) und Shakespeare. Theater des Neides (2011).
Leseprobe
Einführung Fast alle in dem vorliegenden Band versammelten Aufsätze gab es bisher nur auf Englisch. Bee Formentelli besorgte die Auswahl, übertrug die Texte mit großer Sorgfalt ins Französische und versah sie mit dem Titel: 'Die verkannte Stimme des Realen'. Ohne sie wäre nicht nur ein ganz anderes Buch entstanden; ohne sie gäbe es dieses Buch nicht. Ihr gilt daher meine Anerkennung und mein Dank. Ebendiese 'verkannte Stimme des Realen' habe ich mein ganzes Leben lang zu vernehmen und wiederzugeben versucht. In diesem Titel kommt mein Bemühen so treffend zum Ausdruck, daß er mich zu der Frage verpflichtet, ob es mir denn tatsächlich gelungen ist. Denn ich bin keineswegs sicher, die Erwartungen, die dieser Titel vielleicht weckt, auch erfüllen zu können. Zum Glück kann ich auf diese Essays aus einem ganz anderen, viel bescheideneren und weniger gewichtigen Grund stolz sein. Zu dem Vergnügen, sie in meiner Muttersprache Französisch wiederzulesen, gesellt sich die angenehme Feststellung, daß sich in ihnen nichts von den spektakulären Moden unseres letzten Fin-de-siecle findet, kein Reflex irgendeiner Spielart der French theory, die zur Entstehungszeit dieser Aufsätze an den amerikanischen Universitäten ihr Tänzchen aufführte. Der mimetische Furor, der sich dort in intellektuellen Kreisen für kurze Zeit entlud, nahm in seltsamer Weise einen Taumel mit viel weiter reichenden Folgen vorweg: jene Blase der Aktienkurse, die wenig später an der Wall Street zerplatzte. All diese Theorien waren trügerische Destruktionen des Realen. Was mich vor ihnen bewahrt hat, war nicht die undifferenzierte 'Theorieverachtung', die gegenwärtig grassiert und die auch nur eine Mode ist, der Groll des Trunkenen gegen die leeren Flaschen. Es war der Realismus einer anderen Theorie, von der ich mir nicht sicher bin, ob ich sie oder sie mich schuf: die sogenannte mimetische Theorie. Die Disziplinen, denen der Status einer Wissenschaft mangelt, die Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft, können auf theoretische Hypothesen nicht verzichten. Die Unterschiedlichkeit der in diesem Buch behandelten Themen gibt seinem Inhaltsverzeichnis einen fast impressionistischen Zug; doch wer mich kennt, wird sich davon nicht täuschen lassen. Alle Essays sind von der mimetischen Theorie inspiriert, auch der vorletzte, der theoretische Erwägungen über Lachen und Weinen anstellt, in einem Geiste, der Darwin und Baudelaire näher steht als Bergson. Dazu gehört auch der letzte Aufsatz, der die mittelalterliche und moderne Geschichte eines einzigen Wortes, Innovation, nachzeichnet, die - wie mir scheint - sehr erhellend ist für das, was unsere Welt allen früheren entgegenstellt. Auch die eher philosophisch anmutenden Essays, etwa die über Nietzsche, sind sehr 'mimetisch'. Sie bestimmen das ganz offenkundig mimetische Verhältnis zwischen der Obsession Nietzsches gegenüber Wagner, dem Scheitern seines Willens zur Macht und seinem Zusammenbruch am Ende. Es ist nicht nur kindliche Demut, wenn die Nietzscheaner sämtlicher Glaubensrichtungen das Haupt vor ihrem Idol verhüllen; es ist die Idolatrie selbst, die dies verlangt. Von allen Einfällen Nietzsches ist einer der erfolgreichsten das Ressentiment. Doch das anschaulichste Beispiel für diese Selbstvergiftung des Ichs hat man nicht dort zu suchen, wo die Ideologie Nietzsches sie zu orten meint, bei den Christen, die ihrem Christentum treu sind, etwa bei Pascal. Das beste Beispiel liefert ganz offensichtlich Nietzsche selbst; und die schmählichste Erniedrigung fügte ihm Wagner zu, als dieser sehr bald die außerordentliche psychische Schwäche seines Bewunderers entdeckte. Weder der 'linke' noch der 'rechte' Nietzscheanismus dürfte eine Entdeckung überleben, die der gesunde Menschenverstand längst gemacht hätte, wenn der gesunde Menschenverstand bei den diversen Nietzschefeierlichkeiten im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts ein Wort mitzureden gehabt hätte. Mein Ziel ist es nicht, Ni ... Leseprobe
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