Beschreibung
Grete hat Geburtstag, und die ganze Familie reist an zum gemeinsamen Wochenende auf einem alten, renovierten Bauernhof, am Ende des Tales. Grete überläßt nichts dem Zufall: Von der Zimmereinteilung über die Speisefolge bis zum festlichen Bankett unter Sternen ist alles vorbereitet. Doch schon bald suchen die ersten Teilnehmer der Festgesellschaft ihr Heil in der Flucht. Aber dafür ist es bereits zu spät: Eine Viehseuche ist ausgebrochen, Talzu- und Ausgang müssen behördlich gesperrt werden. Olga Flor führt uns in ihrem zweiten Roman in eine perfekt arrangierte Scheinidylle. Sprachlich präzise und mit Sinn für das psychologische Detail verdichtet sie dieses pittoreske Szenario zu einem Kammerspiel um Macht, Sex und die Brüchigkeit familiärer Intimität.
Autorenportrait
Homepage von Olga Flor
Leseprobe
Dicht und stickig legt sich die Luft auf Nase und Mund; es ist viel zu warm in dem kleinen Zimmer, ich reiße das Fenster auf. Grete hat auf einer solchen Temperatur bestanden, schon wegen der Kinder, hat sie gesagt. Von mir aus darf es ruhig kalt werden in der Nacht, wozu haben wir diese dicken Decken, in die ich zurücklaufen kann, hineinspringen; ich atme wieder frei. Ich sehe Arturs Blick vor mir, kurz vor dem Umdrehen, kurz vor dem Abtauchen in der Nacht, warum Artur? Für einen muss ich mich schließlich entscheiden, an einen werde ich ein bisschen denken, mir seinen Blick vor Augen halten, seinen Mund, seinen Körper, bevor die Bilder abdriften, die Bahn sich nicht mehr steuern lässt. Warum ein neuer Körper? Warum diese Sucht nach einem neuen Körper, als könnte der mir etwas zurückgeben, das ich einmal gehabt haben muss, vor dem Einsetzen der Erinnerung, den fehlenden Teil, die Vollständigkeit; als könnte er das Loch stopfen, ich weiß es doch besser, und doch. Der Ring, der die Zunge durchbohrt, als hätte er ein Schweigegelübde abgelegt, als wollte er sich bei jedem Wort an das gebrochene Versprechen erinnern. Projiziere ich nicht das Bild an die Innenseite meiner Augen lider, und zwar mit voller Absicht und mit Anstrengung? Habe ich nicht mit Vorbedacht ausgewählt? Habe ich nicht die Gelegenheiten gemustert, wo sie sich geboten haben, den kleinen blassen Dunkelhaarigen oder den anderen, den mit den langen Haaren, mit den federnden Schritten, dem freundlichen erwartungsvollen Blick, aber nein, der war mir natürlich zu harmlos. Stoff will ich haben für meine Wach träume, Zunder für den Zimmerbrand, es hat der Dritte sein müssen, der Zornige, Artur, dessen Selbstgefälligkeit auf einem schmalen Grat stolziert. Ist halt ein biss chen theatralischer. Macht mehr her, so war es doch. Dann graben mir meine Männerphantasien die Krallen ins Fleisch. Was bringt mich das weiter? Ich sehe also: das Sanfte unter den wilden Augenbrauen, den Seeräuberblick unter dem kahlen Schädel, den Bartanflug rund um die aufgeworfenen Lippen, das Unbeholfene, das mich rührt. Und später dann im Traum schon Thomas unter dem Baum, Thomas, wie er sich umdreht, den tropfenden Schwanz in der Hand, da, sagt er, hast du nicht mal wieder Lust, und ich: nein, nein, entschieden nicht, war nicht so gemeint, sagt er später, packt das Werkzeug weg, das tapfere Werkzeug, sieben auf einen Streich, sagt er, nur ein Scherz. Und wieder Grete: Öffne dich. Dann: ein Planet, der in die Erde stürzt, ich auf der Flucht an Bord eines Schiffes an der Seite eines unbekannten Freundes, ich sorge für meine Kinder, es sind zwei oder drei, ich bringe die Kinder in Sicherheit, später erfahre ich, dass die Aufprallstelle im Pazifischen Ozean war, mein Freund hat es auf CNN gesehen; wo bleibt die Flutwelle, frage ich, der Kapitän lässt keine Japaner an Bord, warum keine Japaner, müsste ich mich nicht unter normalen Umständen dagegen aussprechen, aber das hier sind keine normalen Umstände, hier wird nicht diskutiert, hier wird nicht gefragt, wer auffällig wird, begibt sich selbst in unabsehbare Gefahr. Das Ärgste ist ausgestanden, es ist ein kleiner Planet, die Erde wird ihn schlucken, sage ich, die Bildschirmlaufschrift verkündet, dass jemand, dessen Namen ich vermutlich kennen müsste, in Zukunft nur mehr als Puppenspieler tätig sein wolle, ich bleibe dabei: die Erde wird's schon schlucken, der Fernsehsprecher ist ganz derselben Meinung, die Laufschrift zieht nach: »Earth will swallow«, und mit der Zeit begreife ich, dass ich dem Fernsehsprecher seine Rede einflüstern kann, und das, das weiß ich mit Sicherheit, ist meine Rettung. Die Erdkruste ist ein schwi Leseprobe
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung
Hersteller:
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Verantwortlich: Jo Lendle, Oliver Rohloff
E-Mail: info@hanser.de
Kolbergerstrasse 22
DE 81679 München