Beschreibung
Zuwanderung und ethnische Minderheiten prägten die westlichen Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Aus Begegnungen mit den »Fremden« entstanden in Wissenschaft, Politik und Alltag Deutungen »des Anderen«, die in diesem Band thematisiert werden. Behandelt werden unter anderem juristische Diskurse über »Volksgruppen« in Österreich, die Wahrnehmung von Arbeitsmigranten in Deutschland oder die Veränderung von Sprache und Esskultur durch neue Einflüsse. Dabei werden sowohl die Selbstdeutungen und kulturellen Praktiken von Migranten als auch der Wandel in den »Aufnahmegesellschaften « in den Blick genommen.
Autorenportrait
InhaltsangabeInhalt Einleitung.9 Gabriele Metzler Grundlagen Wahlverwandtschaften/(s)elective affinities: Migranten und Migrationspolitik in der atlantischen Welt im 20. Jahrhundert.19 Imke SturmMartin Der kurze Frühling des britischen Multikulturalismus.35 Sebastian Berg Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Migranten >Minderheiten< und >Volksgruppen< in rechts und staatswissenschaftlichen Diskursen in Österreich, circa 1918-1938.57 Alexander Pinwinkler Macho Man? Repräsentationen mexikanischer Familienstrukturen durch Sozialexperten, Sozialarbeiter und Bürgerrechtsaktivisten in den USA, 1940-1980.87 Claudia Roesch Von den dark strangers zum >Subproletariat<: Wissenschaftliche Deutungen der multiethnischen Gesellschaft in Großbritannien von den 1950er bis Anfang der 1970er Jahre.119 Reet Tamme Herstellung eines >Wir< durch kulturelle Praxis 'Ensemble nous sommes le Xe': Pariser Stadtfeste als Bühnen für Selbst- und Fremdrepräsentationen im Migrationskontext.157 Monika Salzbrunn 'Difficile de faire plus multiéthnique. Difficile de faire plus marseillais': Zur Repräsentation von (Multi-)Ethnizität und Migration im französischen Rap der 1990er Jahre.181 Daniel Tödt 'We will show the Royal Borough what West Indian culture is all about': (Wieder-)Herstellung eines >Wir< im Notting Hill Carnival vom Ende der 1970er bis zum Ende der 1980er Jahre.209 Sebastian Klöß Das Normale und das Andere: Aushandlung von Selbst- und Fremdbildern 'Ich glaube aber, sie haben eingesehen. ': Die spanischen Arbeitnehmer als Objekte der politischen Beeinflussung durch die bundesdeutschen Gewerkschaften in den 1960er Jahren.245 Johanna Drescher 'Unsere und deren Komplexe': Italiener in Wolfsburg - Berichte, Darstellungen und Meinungen in der lokalen Presse (19621975).261 Grazia Prontera Kultureller Transfer durch Migration: Die Adaption kultureller Praktiken durch die 'Host'-Gesellschaft Anders essen in der Bundesrepublik: Begegnungen im ausländischen Spezialitätenrestaurant.283 Maren Möhring Chicano English und Kiez-Sprache: Sprachvielfalt und Sprachwandel?.301 Inke Du Bois Autorinnen und Autoren.327
Leseprobe
Einleitung Gabriele Metzler Die europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts waren 'Gesellschaften in Bewegung'. Menschen verließen ihre Heimat, um sich vor kriegerischen Auseinandersetzungen in Sicherheit zu bringen; sie wurden zur Abwanderung gezwungen, weil irrwitzige, menschenverachtende Siedlungsprogramme dies vorsahen; oder sie suchten anderswo nach besseren Lebenschancen, nach Arbeit und Wohlstand. Erfahrungen mit diesen Formen und Ursachen von Migration waren im Europa des 20. Jahrhunderts nicht neu, sondern ließen sich über Jahrhunderte zurückverfolgen. Gleichwohl blieben Migranten und Migrantinnen in den Ankunftsgesellschaften die Fremden, die Anderen, die, wenn nicht als Bedrohung, so doch als Herausforderung der bestehenden Ordnung betrachtet wurden. Dies galt umso mehr für jene Zuwanderer aus Räumen außerhalb Europas, die im Gefolge der Auflösung der europäischen Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg in wachsender Zahl den Kontinent erreichten und hier gerade die Gesellschaftsgeschichte von Staaten mit starker kolonialer Tradition (namentlich Großbritannien und Frankreich) prägten. Historiker und Sozialwissenschaftler haben lange Zeit den gesellschaftlichen Wandel in Folge von Migration in der nüchternen Sprache demographischer Statistiken verhandelt. Sie haben nach der Entwicklung des Politikfeldes Einwanderungspolitik gefragt und danach, wie Einbürgerungspolitik und Staatsangehörigkeitsrecht auf die sich wandelnden Gegebenheiten reagierten. Dafür, dass die Forschung dabei nicht selten auf zeitgenössische Zuschreibungen und Kategorien zurückgriff, wurden Historiker im Grunde erst im Zuge ihrer Öffnung gegenüber kulturwissenschaftlichen Zugängen sensibel, wie Imke Sturm-Martin in ihrem Beitrag zeigt. Immigrant und Emigrant sind solche Zuschreibungen; aber auch Bezeichnungen für ethnische Minderheiten und überhaupt die Kategorie Ethnizität sind essentialistische Deutungen, die ein So-sein absolut setzen und soziale und kulturelle Hierarchisierungen a priori in sich tragen. Dies gilt auch für vermeintlich positive, Migrantinnen und Migranten gegenüber aufgeschlossene politische Konzepte wie dasjenige des Multikulturalismus, das in den 1990er Jahren eine kurze Blütezeit erlebte, inzwischen aber selbst kritisch hinterfragt wird. Sebastian Berg erhellt dies in seinem Beitrag am britischen Beispiel. Aus der Verbindung von cultural turn und postkolonialen Perspektiven haben Historiker und Sozialwissenschaftler sich neue Sehweisen auf Migration und Migrationsgesellschaften angeeignet. Das kulturwissenschaftliche Konzept der Repräsentation erweist sich als geeignetes Instrument, nach Konstruktionen von Weltsichten zu fragen. Repräsentationen sind Organisationsformen des Wissens, mit deren Hilfe Menschen die Welt, die sie umgibt, deuten und ihr Sinn verleihen; mit denen sie einander begegnen und die ihre Begegnungen vorstrukturieren. Menschen haben immer schon eine Vorstellung vom Anderen, wenn sie dem Anderen begegnen; und ohne das Andere können sie das Eigene gar nicht erkennen. In der Begegnung verändern sich Repräsentationen, und zwar immer sowohl vom Anderen als auch vom Eigenen. In diesem Sinne stellen Repräsentationen soziale Ordnung nicht nur dar, sondern sie stellen sie immer auch her. Das zeigt die Geschichte der westeuropäischen und USamerikanischen Gesellschaften, wie sie die Beiträge dieses Bandes beleuchten, geradezu beispielhaft. Wenn nach Formen und Organisation von Wissen über soziale Zusammenhänge gefragt wird, rücken in modernen Gesellschaften die Wissenschaften zwangsläufig ins Blickfeld. Denn in ihnen haben sich wissenschaftliche Experten als Deutungseliten etabliert, die Kategorien zur Erfassung sozialer Phänomene vorgeben und dadurch sozialen Handlungssinn produzieren. Expertenwissen ist eine Form der Repräsentation sozialer Ordnungen, aus dem sich immer auch handlungsleitende Perspektiven gewinnen lassen. Wissenschaftliche (Sub-)Disziplinen können entstehen, wenn gesellschaftliche Entwicklungen als problematisch und bedrohlich für die bestehende Ordnung gedeutet werden, genauso wie vor diesem Hintergrund Sozialexperten auf Basis ihrer Deutungen social engineering propagieren und betreiben können. Im einzigen Aufsatz in diesem Band, der über Westeuropa und die USA hinausgeht, beleuchtet Alexander Pinwinkler am Beispiel am Beispiel der österreichischen Ersten Republik und des austrofaschistischen Ständestaates, wie Statistiker und Rechtswissenschaftler Kategorien von Minderheiten und Volksgruppen schufen, aus denen sich politische Handlungsmaximen ableiteten. Reet Tamme zeigt, wie sich die race relations-Forschung in Großbritannien nach der Erfahrung der Rassenunruhen (auch dies eine zeitgenössische Zuschreibung!) am Ende der 1950er Jahre etablieren und für lange Zeit die maßgeblichen Deutungen sozialer Ordnung vorgeben konnte. Der Beobachtung und Beschreibung des Anderen durch Experten sind (normative) Ansichten über das Eigene stets immanent, etwa wenn Familienstrukturen und familiäre Praktiken als fremd markiert werden. Claudia Roesch zeigt dies für die US-amerikanischen Sozialexperten und verdeutlicht zugleich, dass in ihrem Blick auf mexikanische Familien immer Repräsentationen der weißen amerikanischen Familie mit verhandelt wurden. Die Fremden, die Migranten, die Anderen erscheinen in diesem Kontext als bloße Objekte hegemonialer Zuschreibung und Abgrenzung. Auf diese Weise werden der koloniale Blick und koloniale Praktiken der Inklusion und Exklusion in postkolonialen Gesellschaften perpetuiert. Jedoch treten im selben Maße wie solche Perpetuierungen auch Prozesse der Subjektivierung zutage, die in jüngerer Zeit auch als solche wissenschaftlich ernst genommen und nicht auf das bloß Folkloristische reduziert werden. Das Beispiel der race relations-Forschung gibt darüber in geradezu paradigmatischer Weise Auskunft, zog die etablierte Forschung auf diesem Feld seit Beginn der 1970er Jahre doch die scharfe Kritik auf sich, sie wurde die bestehende hegemoniale weise Ordnung blos affirmieren. Theoretiker der aufkommenden Postcolonial Studies machten deutlich, wie sehr essentialistische Zuschreibungen dominierten und wie das.Anderssein. in soziale Ordnungen eingeschrieben wurde. Prozesse der Subjektivierung lassen sich auch in kulturellen Praktiken erkennen, in denen Migranten und Migrantinnen ihre eigenen Vorstellungen von dem, was sie sind, und von der Welt, aus der sie kommen, mitteilen. Dass es die gemeinsame Vergangenheit und die verbindenden Traditionen aus der Herkunftsgesellschaft nicht gibt, sondern dass sie ebenfalls (durchaus kontrovers) ausgehandelt werden, legt das Konzept der.Reprasentation. bereits nahe. Deutungen der Welt und des eigenen Wir in der Welt werden auf die Strase getragen, sie werden offentlich gemacht, sei es in Festen, sei es in der Musik oder in anderen Vermittlungsformen. Hybride Identitaten entstehen,. wenn etwa Jugendliche maghrebinischer Herkunft sich Marseille als einen Raum aneignen und ihn als eigenen Raum deuten, wie Daniel Todts Beitrag uber die franzosische Rapmusik zeigt. Gleiches gilt fur die afrokaribischen Gruppen, die ab Ende der 1950er Jahre in London Carnival als eigene Tradition(en) entdecken, deuten und praktizieren. Sebastian Klos macht in seinem Beitrag deutlich, wie sehr der Notting Hill Carnival Gegenstand kontroverser Aushandlungen war, eine Projektionsflache, auf die sich unterschiedliche Deutungen jamaikanischer oder trinidadischer Traditionen richten liesen. West Indian culture wurde, zugespitzt formuliert, erst in London erfunden. Monika Salzbrunns ethnographische Untersuchung der Stadtteilfeste im X. Pariser Arrondissement belegt, wie stadtische Raume zu Schauplatzen werden, an denen Reprasentationen abgeglichen werden und sich wandeln; neue Identitaten entstehen, die sich am konkreten, erfahrbaren lokalen Raum festmachen.
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