Beschreibung
Wir leben in einem parasitären System. Darin ist die schnelle Mitnahme von Gewinn, Shareholderdividenden und Bankerboni attraktiver als das Schaffen von Wert, als der produktive Prozess, der eine gesunde Wirtschaft und Gesellschaft antreibt. Wir verwechseln die Schöpfer mit den Abschöpfern und haben den Blick dafür verloren, was wirklich Wohlstand schafft. Die renommierte amerikanisch-italienische Ökonomin Mariana Mazzucato stellt in ihrem neuen Buch die für die Veränderung unseres Wirtschaftssystems entscheidende Frage: Wer schöpft Werte und wer zerstört sie? Im Kern geht es darum, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen. Wir brauchen einen neuen Kapitalismus, von dem alle etwas haben! "Eine Ökonomin entzieht der Businesselite die Lizenz zum Auftrumpfen." manager magazin
Autorenportrait
Mariana Mazzucato ist Professorin für Innovationsökonomie und Public Value am University College London, wo sie das Institute for Innovation and Public Purpose leitet. Zu ihren preisgekrönten Veröffentlichungen gehören die Bücher 'Das Kapital des Staates' (2014/2023), 'Wie kommt der Wert in die Welt?' (2019) und 'Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft' (2021). Ihre Arbeit wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem John von Neumann Award 2020 und dem Leontief Prize for Advancing the Frontiers of Economic Thought 2018. Sie ist Vorsitzende des Economic Council on Health for All der Weltgesundheitsorganisation, Co-Vorsitzende der Global Commission on the Economics of Water und Mitglied des High-level Advisory Board on Economic and Social Affairs der Vereinten Nationen.
Leseprobe
Vorwort Geschichten über die Entstehung von Wohlstand Zwischen 1975 und 2017 verdreifachte sich in den USA das reale Bruttosozialprodukt - die Größe der Wirtschaft unter Berücksichtigung der Teuerungsrate - von 5,49 auf 17,29 Billionen Dollar. In diesem Zeitraum stieg die Produktivität um etwa 60 Prozent. Der reale Stundenlohn der Mehrzahl der Amerikaner stagnierte jedoch von 1979 an, wenn er nicht gar sank. Anders ausgedrückt, streicht seit nunmehr fast vier Jahrzehnten eine winzige Elite nahezu alle Gewinne aus dieser expandierenden Wirtschaft ein. Sollte das etwa daran liegen, dass diese Elite aus besonders produktiven Mitgliedern der Gesellschaft besteht? Der griechische Philosoph Platon war der Ansicht, dass Geschichtenerzähler die Welt regieren; mit Märchen sollte in seinem idealen Staat die Wächterkaste erzogen werden, deren Elite den Herrscher stellt. Das vorliegende Buch stellt die heute herrschenden Märchen darüber infrage, wer im modernen Kapitalismus die Schöpfer des Wohlstands und welche Aktivitäten angeblich produktiv im Gegensatz zu unproduktiv sind, also Geschichten über den Ursprung des Werts. Das Buch beschäftigt sich mit der Wirkung dieser Geschichten auf die Fähigkeit der Wenigen, im Namen der Wohlstandsschaffung mehr als andere von der Wirtschaft zu profitieren. Diese Geschichten finden sich überall. Der Kontext mag unterschiedlich sein - Finanzwelt, Pharmaindustrie oder Hightech-Sektor -, die Selbstdarstellungen ähneln sich jedoch: Ich bin ein besonders produktives Mitglied der Wirtschaft, meine Aktivitäten schaffen Wohlstand, ich gehe große 'Risiken' ein, also habe ich ein höheres Einkommen verdient als Leute, die lediglich von den Auswirkungen meines Tuns profitieren. Aber was, wenn es sich bei diesen Selbstdarstellungen letztlich nur um Geschichten handelt? Was, wenn es letztlich nur Narrative sind, eigens dazu geschaffen, die Ungleichheit von Wohlstand und Einkommen zu rechtfertigen, um die Wenigen zu belohnen, die Staat und Gesellschaft davon zu überzeugen vermögen, sie allein hätten es verdient, reich belohnt zu werden, während der Rest mit Krümeln zurechtkommen soll. 2009 behauptete Lloyd Blankfein, CEO von Goldman Sachs: 'Die Leute von Goldman Sachs gehören zu den produktivsten der Welt.' Dabei hatte Goldman im Jahr zuvor ganz erheblich zu einer der schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrisen seit den 1930er Jahren beigetragen. Der amerikanische Steuerzahler musste 125 Milliarden Dollar berappen, um den Banken aus der Patsche zu helfen. Im Lichte eines derartigen Schnitzers im Jahr zuvor wirkt das Statement des CEO also ziemlich vollmundig. Die Bank entließ zwischen November 2007 und Dezember 2009 etwa 3000 Angestellte; die Profite gingen in den Keller. Die Bank und ihre Konkurrenten bekamen ein Bußgeld aufgebrummt, das freilich klein ausfiel im Vergleich zu späteren Profiten; so hatte zum Beispiel Goldman 550 Millionen Dollar und J. P. Morgan 297 Millionen zu zahlen. Bei alledem wettete Goldman - zusammen mit anderen Banken und Hedgefonds - gleich darauf gegen eben die Instrumente, die sie geschaffen und die uns derart in die Bredouille geritten hatten. Bei allem Gerede über Strafen für die Banker, die für die Krise gesorgt hatten, ging nicht einer dafür ins Gefängnis, und die vorgenommenen Änderungen hinderten sie gewiss nicht daran, ihr Geld weiter mit Spekulationen zu verdienen: zwischen 2009 und 2016 erwirtschaftete Goldman einen Reingewinn von 63 Milliarden bei einem Nettoerlös von 250 Milliarden Dollar. Allein 2009 brachte man es auf einen Rekordgewinn von 13,4 Milliarden Dollar. Und obwohl der amerikanische Staat das Bankensystem mit Steuergeldern rettete, fehlte es dem Staat an Selbstbewusstsein, die Banken für ein derart risikoreiches Unterfangen zur Kasse zu bitten. Er war letztlich nur einfach froh, sein Geld zurückzubekommen. Finanzkrisen sind selbstverständlich nichts Neues. Aber noch ein halbes Jahrhundert zuvor wäre Blankfeins überschwängliches Vertrauen in seine Bank nicht so selbstverständlich gewesen. Noch bis in die 1960er Jahre hinein galt die Finanzbranche durchaus nicht überall als 'produktiver' Teil der Volkswirtschaft. Man sah ihre Bedeutung darin, bestehenden Wohlstand zu transferieren, nicht darin, neuen Wohlstand zu schaffen. Die Ökonomen waren so überzeugt von der reinen Mittlerrolle des Finanzsektors, dass die meisten Leistungen der Banken, wie etwa ihre Rolle als Spar- und Kreditinstitute, in ihren Berechnungen der von der Wirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen noch nicht einmal auftauchten. Der Finanzsektor schlich sich gerade mal in Form von 'Vorleistungen' in ihre Berechnungen des Bruttosozialprodukts ein, das heißt als Dienstleistungen, die zum Funktionieren anderer Industrien beitragen, die die eigentlichen Wertschöpfer sind. Etwa um 1970 jedoch begann sich das zu ändern. Die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, die ein statistisches Bild von Größe, Zusammensetzung und Richtung einer Wirtschaft liefern, begannen den Finanzsektor in ihre Berechnungen des Bruttosozialprodukts, den Gesamtwert der von einer bestimmten Volkswirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen, miteinzubeziehen. Diese Änderung bei der volkswirtschaftlichen Bilanzierung ging einher mit der Deregulierung des Finanzsektors, die unter anderem für laxere Kontrollen bei der Höhe zu vergebender Kredite sorgte, der Höhe der Zinsen, die Banken verlangen, und hinsichtlich der Art der Produkte, die sie verkaufen konnten. Zusammengenommen läuteten diese Neuerungen eine grundlegende Veränderung des Verhaltens des Finanzsektors ein und vergrößerten seinen Einfluss auf die Realwirtschaft oder 'richtige' Ökonomie. Plötzlich war ein Job in der Finanzwelt keine biedere Laufbahn mehr; vielmehr bot sie smarten Leuten eine Möglichkeit, schnell viel Geld zu verdienen. Es kommt nicht von ungefähr, dass 1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, einige der brillantesten Wissenschaftler aus dem Ostblock an der Wall Street landeten. Der Sektor expandierte und gewann an Selbstvertrauen. Ungeniert begann er mit dem Lobbying für seine Interessen; man sei schließlich ein entscheidender Faktor bei der Schaffung von Wohlstand, lautete die Begründung dafür. Heute geht es längst nicht mehr um die Größe des Finanzsektors oder darum, dass er die gewerbliche Wirtschaft an Wachstum überrundet hat, sondern um seine Wirkung auf das Verhalten der übrigen Wirtschaft, von der bereits große Teile 'finanzialisiert' sind. Finanzgeschäfte und die Mentalität, die sie gebären, durchdringen die Industrie, was sich etwa daran ersehen lässt, dass Manager - zur Manipulation von Aktienkursen, Optionen und ihrer eigenen Bezüge - einen Gutteil der Unternehmensprofite in Aktienrückkäufe stecken, anstatt sie in die langfristige Zukunft ihrer Unternehmen zu investieren. Sicher, sie nennen das Wertschöpfung, aber wie im Finanzsektor selbst handelt es sich in Wirklichkeit oft um das Gegenteil, um Wertextraktion beziehungsweise Wertabschöpfung. Derlei Geschichten um die Wertschöpfung beschränken sich mitnichten auf die Finanzwelt. 2014 bezifferte der Pharmagigant Gilead eine dreimonatige Behandlung des lebensgefährlichen Hepatitis-C-Virus mit seinem Medikament Harvoni auf 94500 Dollar. Gilead rechtfertigte den Preis mit dem 'Wert', den das Medikament für das jeweilige Gesundheitssystem darstelle. Laut John LaMattina, dem ehemaligen Forschungs- und Entwicklungschef beim Pharmakonzern Pfizer, rechtfertige sich der hohe Preis von Spezialpharmazeutika aus dem Nutzen für die Patienten und die Gesellschaft ganz allgemein. In der Praxis bedeutet dies, dass man den Preis nach den Kosten kalkuliert, die der Gesellschaft entstünden, würde die Krankheit mit dem zweitbesten Medikament oder gar nicht behandelt. Die Branche spricht hier von 'wertorientierter Preisgestaltung'. Kritiker dieser Praxis führen gerne Fallstudien an, denen zufolge es keinerlei Korrelation gibt zwischen dem Preis von Krebsmedikamenten und ihrem Nutzen. Ein interaktiver Rechner im Int...
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