Rituale

Historische Einführungen 16

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593510279
Sprache: Deutsch
Umfang: 289 S.
Format (T/L/B): 2.2 x 20.5 x 13.5 cm
Auflage: 2. Auflage 2019
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Rituale sind allgegenwärtig. Amtseinsetzung und Friedensschluss, Taufe, Hochzeit und Beisetzung, Denkmalsturz und Erinnerungsfeier: Ritualen kommt eine elementare, sozial strukturbildende Funktion zu. Mehr noch als für die Gegenwart gilt das für frühere Epochen. Seit die Geschichtswissenschaft im Zuge des "cultural turn" dieses Thema für sich entdeckt hat, sind immer mehr historische Phänomene durch die "ritualtheoretische Brille" betrachtet worden. Dieses Studienbuch gibt einen hervorragenden Überblick über die wichtigsten Theorien und Kontroversen der historischen Ritualforschung und die Vielzahl der rituellen Phänomene in der Geschichte. "Wie ausgereift das Konzept dieser Reihe inzwischen ist, zeigt gerade dieser Band. Das Buch vermittelt eine Unmenge an grundlegenden Einsichten über Vergangenheit und Gegenwart und entwickelt überzeugende Perspektiven für die Zukunft des Faches Geschichte." Das Historisch-Politische Buch

Autorenportrait

Barbara Stollberg-Rilinger ist Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Münster und leitet seit September 2018 das Wissenschaftskolleg zu Berlin.

Leseprobe

1. Einleitung 1.1 Was ist ein Ritual? Rituale sind allgegenwärtig und wirkmächtig, auch heute noch. Nur ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit, um das zu illustrieren: Am 20. Januar 2009 legte Barack Obama vor der Öffentlichkeit Washingtons und der ganzen Welt seinen Amtseid als 44. Präsident der Vereinigten Staaten ab, indem er seine rechte Hand auf die Bibel Abraham Lincolns legte und die Worte wiederholte, die der Oberste Richter John Roberts ihm vorsprach: "I, Barack Hussein Obama, do solemnly swear that I will execute the office of President of the United States faithfully and will to the best of my ability preserve, protect and defend the Constitution of the United States. So help me God." Damit war der neue Präsident der Vereinigten Staaten kreiert - so sollte man meinen. Doch manche in den USA bezweifelten dies. Denn Richter Roberts hatte aus Versehen den exakten Wortlaut des Eides, so wie er in der Verfassung niedergelegt ist, verändert (das Adverb "faithfully" stand an der falschen Stelle) und Obama hatte es ihm genau so nachgesprochen. In der amerikanischen Öffentlichkeit brach eine Debatte darüber aus, ob Obama nun tatsächlich Präsident sei. Die Administration wollte vollkommen sicher gehen und ausschließen, dass irgendein Gegner des ersten farbigen US-Präsidenten den kleinen Ritualfehler zum Anlass nehmen könnte, die Gültigkeit des ganzen Aktes zu bestreiten. Daher ließ Richter Roberts Obama das Ritual am folgenden Tag korrekt wiederholen: Jetzt war Obama zweifelsfrei Präsident. Es erscheint verblüffend und befremdend, dass in unserer Gegenwart ein solch scheinbar archaischer Glaube an die Notwendigkeit der korrekten äußerlichen Form eine so große Rolle spielen soll. Sicher ist die Episode ein Grenzfall, und Obama wäre vermutlich von den allermeisten US-Bürgern auch als Präsident anerkannt worden, wenn er den Eid nicht korrigiert hätte. Aber gerade Grenzfälle machen gemeinhin sichtbar, was im Normalfall verdeckt bleibt: dass die symbolische äußere Form eine wesentliche Rolle spielt. Deshalb ist die Geschichte ein Indiz dafür, welche Wirkmacht Ritualen auch heute noch zukommt. Und sie eignet sich ganz allgemein dazu, sich der Frage zu nähern, was Rituale sind, wie sie funktionieren und was sie leisten. Zunächst muss man sich allerdings klar machen, was man überhaupt tut, wenn man einen so zentralen kulturwissenschaftlichen Begriff wie "Ritual" definiert. In der Alltagssprache wird das Wort diffus verwendet und nicht von verwandten Ausdrücken wie Zeremonie, Fest, Feier, Kult, Brauch, Etikette oder Routine unterschieden. Es wäre allerdings ganz falsch zu erwarten, dass ein solcher Begriff dann wenigstens in der Wissenschaftssprache allseits einheitlich und eindeutig verwendet würde. Das ist schon deshalb nicht anzunehmen, weil sich sehr viele wissenschaftliche Disziplinen mit rituellen Phänomenen befassen und dabei teilweise ganz unterschiedliche Dinge vor Augen haben - Religionswissenschaft, Kulturanthropologie, Soziologie, Literatur-, Theater-, Musik- und Kunstwissenschaft, Rechts- und Politikwissenschaft, Psychologie, Theologie und nicht zuletzt die Geschichtswissenschaft. Definitionen wissenschaftlicher Begriffe dienen dazu, die Vielfalt der Phänomene zu ordnen, Unterscheidungen zu treffen, das Gegenstandsfeld einer Disziplin zu strukturieren und sich darüber untereinander präzise zu verständigen. Meist enthalten solche Begriffe schon den Kern einer Theorie über den Gegenstand, um den es geht. Mit anderen Worten: Definitionen sind wichtige methodisch-theoretische Instrumente, aber keine endgültigen Wahrheiten. Es ist notwendig, jeweils offenzulegen, wie man die Begriffe verwendet, damit man nicht aneinander vorbeiredet und darüber diskutieren kann, ob die eine Definition hilfreicher ist als die andere. Es ist aber weder möglich noch notwendig, ja nicht einmal wünschenswert, sich auf eine einzige, "richtige" und "endgültige" Definition zu einigen. Deshalb ist die Geschichte der Ritualforschung immer zugleich eine Geschichte unterschiedlicher Ritualdefinitionen (vgl. etwa Leach 1968; Belliger/Krieger 1998; Michaels 2003; Kreinath/ Snoek/Stausberg 2006; Fugger 2011 u. v. a.). Für Historiker kommt noch eine andere Schwierigkeit hinzu. Sie müssen unterscheiden zwischen den Begriffen, die sie selbst zum Zweck wissenschaftlicher Analyse verwenden, und den (womöglich gleichlautenden) Begriffen, die in den historischen Quellen verwendet werden. Wenn, wie etwa im Falle von "Ritus" oder "Zeremonie", die heutigen Begriffe eine lange Geschichte haben, in der sich ältere und jüngere Bedeutungsschichten überlagern, ist es umso wichtiger, sich darüber Rechenschaft abzulegen, in welchem Sinne man selbst die Worte jeweils gebraucht. Erstens: Rituale sind geformt und wiederholen sich; das heißt, sie spielen sich immer wieder in bestimmten, gleichen oder ähnlichen Formen ab. Das ist der Kern dessen, was Rituale ausmacht: Sie folgen einer standardisierten äußeren Form und sind daher erwartbar und wiedererkennbar. Das heißt, es gibt bestimmte Regeln, wie ein Ritual formal "richtig" abläuft, welche Gesten, Worte und Umstände korrekt und welche Akteure für das rituelle Handeln kompetent sind. Wie die Normierung der Formen beschaffen ist, kann ganz unterschiedlich sein: Es kann sich um eine stillschweigende, implizite, allein im Handeln selbst erfahrbare Regelmäßigkeit handeln oder um eine schriftliche Normierung in Form eines festen Ritualskripts. Diese Standardisierung entlastet von der Wahl zwischen prinzipiell unendlich vielen möglichen Handlungsweisen und sorgt so für Erwartungssicherheit und dauerhafte Struktur. Dies heißt allerdings keineswegs, dass Rituale vollkommen starr und unveränderlich wären. Die äußeren Formen bedürfen zwar grundsätzlich einer gewissen Konstanz, sonst wären sie nicht wiederholbar und wiedererkennbar, und man könnte nicht von einem Ritual sprechen. Die Formen sind aber zugleich für die Beteiligten in einem gewissen Maße verfügbar und veränderbar. Rituale können absichtsvoll gestaltet werden - auch wenn das oft nicht allen Teilnehmern bewusst ist oder sogar verschleiert wird. Dabei haben die verschiedenen Beteiligten unterschiedlich großen Handlungsspielraum und Verfügungsmacht (agency) über den Ablauf eines Rituals. Zweitens sind Rituale als solche zeitlich, räumlich und sozial gekennzeichnet; dasheißt, siewerdenausdemalltäglichen Handlungsfluss auf verschiedene Weise herausgehoben, symbolisch eingerahmt und zu bestimmten Anlässen demonstrativ aufgeführt. Es gibt ganz unterschiedliche akustische und visuelle Zeichen des Anfangs und Endes; der Ort wird symbolisch markiert; die Akteure sind durch Kleidung und andere Attribute hervorgehoben; es gibt spezifische feierliche Sprachformeln. Meist sind Rituale auch durch besondere materielle Pracht und ästhetische Qualität gegenüber dem Alltag gekennzeichnet. Damit wird eine besondere Handlungsebene etabliert. Das heißt: Rituale erfolgen nicht spontan; man kann sie nicht zufällig und unbewusst vollziehen; man folgt dabei vielmehr einem Anlass, einer bewussten Absicht (intentio solemnis) und einer Regie. In der Regel werden Rituale vor einer gewissen Öffentlichkeit oder zumindest vor bestimmten Zeugen aufgeführt. Öffentlichkeit ist dabei relativ zu verstehen; gemeint ist die Öffentlichkeit der jeweiligen Ritualgemeinschaft. Das schließt nicht aus, dass bestimmte Teile eines Rituals im Geheimen vollzogen werden. Die gleichzeitige körperliche Anwesenheit von Akteuren und Adressaten ist konstitutiv, wobei beide Rollen nicht scharf zu trennen sind: Die Akteure sind immer zugleich auch Adressaten und umgekehrt. Die Adressaten eines Rituals sind keineswegs allein Menschen, sondern können auch Götter, Ahnen, Heilige oder Dämonen sein. Rituale haben demonstrativen Charakter; sie werden als herausgehobene Akte wie auf einer Bühne (im wörtlichen oder übertragenen Sinne) in mehr oder weniger feierlicher Weise inszeniert. Drittens sind Rituale symbolisch in dem Sinne, dass sie über...