Verführung und Begehren

Die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783608944860
Sprache: Deutsch
Umfang: 320 S.
Format (T/L/B): 3.4 x 23.4 x 16.3 cm
Auflage: 1. Auflage 2008
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Die Entwicklung der menschlichen Sexualität folgt keinem angeborenen biologischen Programm, sondern vollzieht sich in einer interpersonalen Beziehung. In der Regel stellt die frühe Eltern-Kind-Beziehung solch einen Ort universeller, unbewusster sexueller Verführung und elementarer Befriedigung dar. Während der bisherige psychoanalytische Diskurs von einer starren Zweiteilung des Geschlechterverhältnisses ausgeht und die Unterschiede zwischen Männern und Frauen betont, entwickelt Ilka Quindeau ein geschlechtsübergreifendes Modell menschlicher Sexualität, das die 'männlich'- phallischen und die 'weiblich'-rezeptiven Anteile integriert und Raum lässt für die Vielfalt geschlechtlicher Identifizierungen und sexueller Spielarten. Sie zeigt strukturelle Gemeinsamkeiten von Hetero-, Homosexualität und Perversion auf und plädiert für eine allgemein menschliche Sexualität, bei der sich Männer und Frauen weniger voneinander als vielmehr untereinander unterscheiden. Der von Freud postulierte Primat der Genitalität wird dabei ebenso in Frage gestellt wie der kulturelle Primat der Heterosexualität. Schließlich führt die Autorin aus, welche Konsequenzen die neue Sichtweise für die psychotherapeutische Praxis mit sich bringt.

Autorenportrait

Ilka Quindeau, Prof. Dr. phil. habil., ist Diplom-Psychologin, Diplom-Soziologin und Psychoanalytikerin (DPV / IPV). Sie lehrt als Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Fachhochschule Frankfurt und unterhält eine eigene Praxis.

Leseprobe

Einleitung Trieb, Begehren und Verführung: Ansätze zu einer Neufassung der Freudschen Sexualtheorie Der Mythos Sexualität hat ausgedient. Im Unterschied zu Freuds Zeiten ist das Reden über sexuelle Wünsche und Phantasien - nicht zuletzt durch Talkshows und › Reality-TV ‹ - inzwischen in hohem Maße banalisiert worden. Was früher als ›pervers‹ galt, ist es längst nicht mehr; Gummi, Lack und Leder scheinen der Schmuddelecke entkommen und Einzug in viele Schlafzimmer gehalten zu haben. Ganz selbstverständlich denken junge Frauen heute über die Möglichkeit nach, künstliche Befruchtung in Anspruch zu nehmen, statt - wie bisher üblich - durch Geschlechtsverkehr schwanger zu werden. Diese drei Facetten beleuchten die tiefgreifenden Veränderungen des Sexuellen, denen wir nicht nur in der Alltagswelt, sondern auch in der therapeutischen Praxis begegnen. Verändert haben sich dabei nicht nur sexuelle (Funktions-)Störungen im engeren Sinne, beobachten lässt sich vielmehr ein ganzes Spektrum unterschiedlichster Phänomene. Rund 100 Jahre nach Freuds bahnbrechenden Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905 d) steht psychoanalytisches Denken somit vor einer großen Herausforderung, vor einer vielfältig gewandelten Situation, die erneutes Nachdenken über Sexualität, Lust und Begehren, über Männer und Frauen, ihr Verhältnis unter- und zueinander verlangt. Die Drei Abhandlungen - der zentrale Text der Psychoanalyse über Sexualität - bedürfen einer grundlegenden Revision. Seit Ende der 1960er Jahre ist diese Enttraditionalisierung und Pluralisierung sexueller Lebensformen zu beobachten, die sexuelle Orientierungen und Präferenzen, Beziehungs- und Familienformen ebenso umfassen wie Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit. Durch Studenten-, Frauen- und Homosexuellenbewegung wurden solch grundlegende Veränderungen in diesem Bereich in Gang gesetzt, die üblicherweise und doch mythologisierend als ›sexuelle Revolution‹ bezeichnet werden. Emphatisch sprach etwa Wolfgang Loch noch 1968 davon, dass freie geschlechtliche Beziehungen nun jedem Menschen, und nicht nur einer bestimmten privilegierten Schicht, möglich geworden seien, und führt dies auf zwei Realfaktoren zurück: Zum einen erlaube wissenschaftliche Forschung Geschlechtsakte ohne Gefahr einer Schwangerschaft und mit stark eingeschränktem Risiko der Übertragung von Krankheiten; zum andern sei ein Zerfall von patriarchalischen und autoritären Herrschaftsstrukturen in Familien festzustellen. Die früher geforderte gesellschaftliche Tabuisierung wechselnder Geschlechtsbeziehungen (ob vor- oder außerehelich) sei damit entbehrlich: Weder wird dadurch die gesellschaftliche Ordnung angetastet, noch hat die Sexualpraxis Einfluss auf den quantitativen Bevölkerungsstand - die Einzelnen bleiben von sichtbaren realen Folgen der sexuellen Beziehungen verschont. Sexuelle Beziehungen werden zur Angelegenheit der rein ›privaten‹ Sphäre (so es die denn gibt), zumindest beeinflussen sie nicht mehr so unmittelbar wie früher gesellschaftliche Interessenbereiche wie die Fortpflanzung oder die Vererbung von Besitz. Diese Deregulierung hat sie zu einem profitablen Gegenstand kommerzieller Interessen werden lassen, aus denen sich eine boomende ›Sexindustrie‹ entwickelte. Ferner sind traditionell normsetzende Instanzen wie Kirche und Staat im Bereich des Sexuellen bedeutungslos geworden. Die traditionelle Sexualmoral ist einer Verhandlungsmoral (Schmidt, 2004) gewichen, die etwa gleich starke und weder emotional noch ökonomisch abhängige Partner voraussetzt. Diese neue Moral setzt Sensibilität gegenüber den Wünschen und Grenzen des Anderen voraus, erfordert die Fähigkeit zur Selbst- und Interaktionsreflexivität, was zugleich ihre Problematik beschreibt, denn solche reflexiven Fähigkeiten sind keineswegs selbstverständlich vorauszusetzen. Verhandlungsmoral geht mit erheblichen Veränderungen in der Sexualität zwischen Männern und Frauen einher und zeigt sich nicht zuletzt auf juristischer Ebene an der veränderten Rechtsprechung etwa im Fall von sexueller Gewalt. Pointiert könnte man formulieren, dass eine Demokratisierung der sexuellen Beziehungen auf dem Weg ist. Der Wandel der Sexualmoral schlägt sich auch in einem Bedeutungswandel der Institution Ehe nieder: Einerseits verliert sie ihr Monopol, Beziehungen und Familie zu definieren und zu legitimieren; andererseits bleibt sie weiterhin eine zentrale gesellschaftliche Institution. Das Vertrauen in die Ehe scheint nach wie vor ungebrochen, worauf zum einen die hohen Wiederverheiratungsquoten verweisen, aber auch die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, die nach dem Vorbild der Ehe legitimiert werden. Der ehelichen Beziehung stellt Giddens eine neue Beziehungsform zur Seite, die sogenannte reine, ›pure‹ Beziehung ( Giddens, 1993): Eine Liebesbeziehung erfüllt kaum noch Versorgungs- und Reproduktionsfunktionen, zur Legitimation braucht sie die Institution Ehe nicht mehr, sondern sie wird lediglich um ihrer selbst willen eingegangen. Während diese Beziehungsform bei gleichgeschlechtlichen Paaren deutlicher hervortritt, tendieren zunehmend auch heterosexuelle Paare in diese Richtung. Eine Beziehung hat nur so lange Bestand, wie sich beide wohl fühlen; die permanente Instabilität gehört zu ihren Kennzeichen, Dauerhaftigkeit um der Dauer willen würde ihren Idealvorstellungen zuwiderlaufen. Reimut Reiche bezeichnet diese Beziehungsform griffig als ›serielle Monogamie ‹ (Reiche, 2004 a). Sexuelle Aktivitäten haben in diesen Beziehungen vor allem die Funktion, Intimität herzustellen, also den Wünschen nach Nähe, Geborgenheit und Zuneigung Ausdruck zu geben. Als Kehrseite dieses intimitätstiftenden Aspekts von Sexualität lässt sich die Verschiebung der Sphären von Privatheit und Öffentlichkeit konstatieren, die mit starker Kommerzialisierung einhergeht. Die Omnipräsenz des Sexuellen in der Alltagswelt in verschiedensten Medien - in der Werbung, im Fernsehen ebenso wie im Kino und im Internet - führt zu einer Dauererregung, welche die Einzelnen zugleich abstumpfen lässt. Welche Folgen dies für das sexuelle Erleben, die Wünsche und Phantasien hat, ist im einzelnen kaum abzusehen. Nach wie vor finden sexuelle Aktivitäten weit überwiegend in festen Partnerschaften statt. Zu diesem überraschenden Ergebnis, das die mediale Omnipräsenz des Sexuellen deutlich konterkariert, führt eine empirische Studie über Beziehungsbiografien. Dabei wurden zudem bemerkenswerte Kontinuitäten zwischen verschiedenen Altersgruppen sichtbar. In Hamburg und Leipzig wurden über einen Zeitraum von 30 Jahren Angehörige der Altersgruppen von 30-, 45- und 60-Jährigen beiderlei Geschlechts befragt: Etwa 95 % aller Geschlechtsverkehre erfolgen danach in festen Beziehungen, und zwar unabhängig von Geschlecht, Alter und Wohnort; etwa 1 % findet in Außenbeziehungen statt und nur 5 % bei Singles, obwohl sie 25 % der Befragten ausmachen (vgl. Schmidt, 2004, 2005). Die Ergebnisse dieser Studie lassen das reale sexuelle Verhalten weit nüchterner erscheinen, als es die schrillen Inszenierungen in den Medien glauben machen. Der sexuellen Revolution Ende der 1960er Jahre, die man nach den Umwälzungen, die um 1910 herum erfolgten, als zweite sexuelle Revolution bezeichnen könnte, lässt Volkmar Sigusch (2001) eine dritte Revolution in den achtziger und neunziger Jahren folgen. Deren Veränderungen verliefen weit subtiler und unbemerkter als die vorhergehenden; sie bestünden darin, dass die alte Sexualität auseinander genommen und neu wieder zusammengesetzt wird. Während Sigusch diese letzte Umwälzung in einem soziologischen Sinne als › neosexuelle Revolution‹ bezeichnet und von › neosexuell ‹ oder › Neosexualitäten ‹ spricht, scheint es mir im psychoanalytischen Diskurs sinnvoller, diese Begrifflichkeiten der Verwendungsweise vorzubehalten, die Joyce McDougall (1982) bereits früher vorgesehen hat: Sie dienten ihr in der Auseinandersetzung mit dem problematischen Begriff ›Perversion‹ zur Beschreibung sexueller Inventionen, d...

Inhalt

Einleitung I . Verführung, Begehren und Sexualität Verführung: Ursprung der Sexualität Freuds Verführungstheorie – ein unterschätztes Konzept Nachträglichkeit – der zentrale Modus der Entstehung des Sexuellen Die Universalität der Verführung – Desideratus ergo sum Begehren als Einschreibung in den Körper Neufassung des Triebkonzepts: ›Begehren‹ statt ›Trieb‹ Wunsch und Bedürfnis Spur und Umschrift Die infantile Sexualität Varianten infantiler Sexualität Pubertät und Adoleszenz: Übergang zur Erwachsenensexualität Exkurs: Kurzes Nachwort zur Sexualität der Erwachsenen II . Männlich – Weiblich Freuds Ansichten zu Männlichkeit und Weiblichkeit Kontroversen zu Freuds Weiblichkeitskonzept Bestandsaufnahme Neuer Wein in alten Schläuchen? Die Wiederaufnahme der Diskussion seit den 1960er Jahren Innere und äußere Genitalität Sexualität und Reproduktivität Sex und gender Jenseits des Geschlechts: Trans- und Intersexualismus Die Entsexualisierung des Geschlechterdiskurses Männlichkeit: ein »dunkler Kontinent«? Geschlechterdichotomie – Geschlechterspannung III . Homosexualität, Heterosexualität , Perversion Objektwahl und phantasmatische Liebesbedingungen Heterosexuelles Begehren Homosexuelles Begehren Männliche Homosexualität Weibliche Homosexualität Die »Diktatur der Sexualität« ›Perversionen‹, › Paraphilien ‹, ›verkehrte Liebe‹? IV. Zusammenschau : Die ›Aufhebung‹ der Geschlechterdifferenz – Schlaglichter auf die psychoanalytische Sexualtheorie Dank Literatur Personenregister

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