Beschreibung
Reither, bis vor kurzem Kleinverleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm. Und bereits in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist. Kirchhoff erzählt in seiner großartigen Novelle von der Möglichkeit einer Liebe sowie die Parabel von einem doppelten Sturz: in die Liebe, ohne ausreichend lieben zu können, und in das Mitmenschliche, ohne ausreichend gut zu sein. 'Aber wo wären wir ohne etwas Selbstüberschätzung', sagt der Protagonist Reither, um sich Mut zu machen für den ersten Kuss mit Leonie Palm, 'jeder wäre nur in seinem Gehäuse, ein Flüchtling vor dem Leben.' Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2016
Autorenportrait
Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Zuletzt erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt seine von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romane 'Die Liebe in groben Zügen' (2012) und 'Verlangen und Melancholie' (2014). Im Herbst 2016 wurde Kirchhoff für seine Novelle 'Widerfahrnis' mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Das Gesamtwerk Bodo Kirchhoffs erscheint in der Frankfurter Verlagsanstalt.
Leseprobe
Kennen Sie sich etwas aus mit Autos? Reither trat an das wieder geschlossene Fenster, er sah zu dem Stück Parkplatz - der Wagen mit Schneehaube, der gehörte ihr. Ich kann Zündkerzen austauschen, Reifen wechseln, warum? Er ging wieder zum Tisch und nahm sich den anderen Stuhl. Warum? Die Wagenbesitzerin setzte die Tasse ab. Ach, ich dachte, man könnte eine kleine Probefahrt machen. Eine Probefahrt - Reither füllte ihre Tasse auf -, die macht man, wenn man ein Auto kaufen will, aber ich brauche keins. Man könnte aber einen Ausflug damit machen, morgen zum Achensee. Und wenn man etwas verrückt wäre, auch sofort. Vielleicht reicht es schon, nur ganz wenig verrückt zu sein, weil wir gleich morgen haben, hören Sie's? Leonie Palm legte einen Finger hinters Ohr, und da hörte auch er es, als wär's ein Finger hinter seinem Ohr - von dem Kirchlein am Rietberg kamen die letzten von zwölf kurzen Glockenschlägen. Noch war Sonntag, gleich war Montag, auch wenn der Tag nur kalendarisch anbrach. Aber er brach an. Und dann gab er sich dem kleinen kalendarischen Schwindel hin, dass morgen schon jetzt war und man eigentlich gar nicht verrückt sein müsste, um ein Auto zu besteigen und einen Ausflug zu machen. Aber die Kupplung funktioniert doch? Man muss sie nur durchtreten. Rauchen wir vorher noch eine? Sie hielt die Hand auf, und er legte eine Zigarette hinein, sie steckte sie zwischen die Lippen, er gab ihr Feuer, sie hielt die Hand schützend um die Flamme, obwohl das Fenster nicht auf war, und er die Hand schützend um ihre, obwohl die Zigarette schon brannte - das alte, stille Vorgehen. Dann steckte er sich auch eine an und sah zu der Frau, die mit ihm in der Dunkelheit eine Autofahrt machen wollte. Na, denn, sagte er.
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