Leseprobe
Michael Weins kocht mir einen Kaffee in seiner Küche. Michael Weins ist ein netter Mensch. Normalerweise ist er auch ein fröhlicher Mensch, aber jetzt beim Kaffee erzählt er, dass er Geschlechtsverkehrliteratur lesen musste. Drei Stück. Für seine Diplomarbeit. Das sexuelle Leben der Catherine M., Das sterbende Tier und Elementarteilchen. Er guckt gehetzt, traumatisiert, ein bisschen wie ein sterbendes Tier vielleicht, sein Blick irrlichtert über die vielen herumstehenden Beistelltischchen. Entsetzen schwingt in seiner brüchigen Stimme, aus dem Off erklingt Vietnamkriegstraumaflashbackmusik. Ich hab das Zeug jetzt durch, sagt er, aber ich habe ganz deutlich gemerkt: Sex ist nicht so mein Ding. Er schaudert und verschüttet dabei ein bisschen Kaffee. Ich glaub, sagt er, ich muss da erst mal eine Geschichte drüber schreiben. Ich empfinde Mitleid mit ihm. Und ich kann ihn aus tiefstem Herzen verstehen. Scheuen wir uns nicht, den Tatsachen ins Auge zu sehen: Es wird zuviel gefickt. Gebummst, geblasen und Schlimmeres. Und zu viel drüber geredet. Geschrieben. Gesendet. Wer bislang einfach seinen Fernseher vom Balkon warf und Zuflucht in der nächsten Buchhandlung suchte, gesenkten Blickes an den Hörbüchern Gina Wilds und den Bohlenbuchstapeln vorbei in die Belletristikecke huschte, sieht sich selbst dort inzwischen konfrontiert mit kopulierenden Französinnen und hurenden Frankokanadierinnen, man hört es allerortens geschlechtlich schmatzen zwischen den Buchdeckeln. Es ist soweit gekommen, dass selbst Günter Grass literarisch seine Erektion bestaunt. Möchten wir uns das bildlich vorstellen? Nein, das möchten wir nicht. Wir möchten es auch nicht lesen. Und eigentlich möchten wir auch keinen Sex haben. Allerhöchstens noch katholischen, in der Missionarsstellung und mit Licht aus. Kurz und bündig und lediglich der Fortpflanzung wegen, wenn es denn schon sein muss. Und hinterher schön die Klappe darüber halten. Denn Sex ist gar nicht so toll. Sex ist eigentlich ziemlich blöde. Menschen beim Sex sehen unwürdig aus und benehmen sich unzivilisiert bis bescheuert. Ästhetisch ist Sex nur zu ertragen, wenn David Lynch oder Nicholas Roeg Regie führen, vorzugsweise gleichzeitig Herr Ballhaus an der Kamera steht und sehr, sehr viel Sorgfalt auf Schnitt und Postproduktion verwandt wird. Sonst ist Sex furchtbar. Unkontrollierte Körperbewegungen und -flüssigkeiten, undurchdachte Äußerungen. Entgleiste Mimik. Flecken.