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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783866382213
Sprache: Deutsch
Umfang: 363 S.
Format (T/L/B): 3 x 21.2 x 13.3 cm
Einband: gebundenes Buch

Autorenportrait

Kerstin Maria Pöhler wurde in Köln geboren. Sie studierte Musik (Hauptfach Klavier) und Germanistik an der Musikhochschule Köln und der Universität zu Köln. Als Musiktheater-Regisseurin hat sie an bedeutenden Opernhäusern im In- und Ausland gearbeitet. Ihre Inszenierung der Oper Friedenstag von Richard Strauss wurde, nach vielen anderen Auszeichnungen für ihre Bühnenarbeit, 2015 für den International Opera Award nominiert und in der Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne in den Rubriken beste Regie und beste Bühne der Saison 2014/15 genannt.

Leseprobe

Aufbruch Sie trat auf die Bühne, das Licht des Scheinwerfers richtete sich auf sie. Sie atmete tief ein, so tief sie konnte, ihre Muskeln spannten sich an, ihre Sehnen strafften sich. Sie atmete aus, und die angestaute Kraft in ihrem Körper entlud sich. Sie rannte in der Diagonalen nach vorne, kraftvoll sprang sie vom Boden ab, getragen vom Klang der Musik. Sie flog, die Arme seitlich nach oben gestreckt, die Beine gespreizt im Spagat. Sie hat das Gefühl zu schweben, den Kopf weit zurück in den Nacken gelegt, den Blick in den Bühnenhimmel gerichtet, schwereloser Glücksmoment, doch schon spürt sie, wie sie an Höhe verliert, erblickt den schwarzen Boden unter sich, landet und federt den Schwung mit zwei kleinen Schritten ab, während sie ihre Arme sinken lässt, langsam einholt wie Flügel und ihre Finger spreizt wie einzelne Federn. Der Prinz tritt auf, er will sie fangen, sie flieht. Und plötzlich: Ihr Atem beginnt zu flackern, ihr Körper zittert, doch sie darf nicht aus dem Rhythmus kommen, ihre Bewegungen müssen sich in die von Valery fügen. Sie ringt um Luft, seine Hände langen nach ihr, ergreifen sie und heben sie empor, sie entflieht ein zweites Mal, den vorgegebenen Bahnen der Choreographie folgend, beim dritten Mal entkommt sie ihm nicht. Auf der Spitze stehend dreht sie eine Pirouette, die Arme über dem Kopf, mit abstehendem Tutu, er umfasst ihre Taille und dreht sie immer schneller, ihr schwindelt, er reißt ihr eine Feder aus dem Kostüm, die Feder, die ihn beschützen soll, die sie ihm hätte geben müssen. Sie bekommt keine Luft mehr, der Boden wankt unter ihren Füßen - nur nicht fallen, sie meint zu ersticken, endlich lösen sich Valerys Hände von ihr. Scheinwerfer blenden auf, der Zuschauerraum stürzt auf sie zu, Applaus. Luft strömt in ihre Lungen, gerettet, denkt sie. Der Beifall verebbte. Hinter dem Vorhang wartete schon Valery mit einem Geschenk auf sie, einem kleinen bunten Holzvogel, Schar Ptiza, er hatte ihn selbst geschnitzt. Für meinen Feuervogel, sagte er - ihre erste große Rolle, ihr Durchbruch als Solistin. Der Ballettmeister eilte mit tippelnden Schritten auf sie zu und meinte, einen solchen Grand jeté mache ihr in der ganzen Compagnie keiner nach. Seine Umarmung war hart und erdrückend. Er roch nach Veilchen. War das alles, was der Mann ihr nach Monaten eisernen Trainings zu sagen hatte? Für sie bedeutete der Tanz sehr viel mehr als ein technisch perfekter Sprung: sich Wiederfinden in einer Rolle. Ein hagerer Mann hielt im Theaterfoyer die Premierenansprache. Er redete über den Auftrag der Kunst in der sozialistischen Gesellschaft. Nach vorne geneigt las er von seinem Manuskript ab, ohne seine Zuhörer anzusehen, seine Stimme klang heiser. Ungeduldig strich er sich eine widerspenstige Haarsträhne, die ihm immer wieder ins Gesicht fiel, mit flacher Hand zurück. Zum Glück fasste er sich diesmal kürzer. Am Ende dankte er dem gesamten Theaterkollektiv und insbesondere der neuen Primaballerina Maja Stoyanova, in vorbildlicher Weise hätten sie sich in den Dienst der gesellschaftlichen Erneuerung und der Verbesserung Bulgariens gestellt. Bei der Spartacus-Premiere hatte er genau dasselbe gesagt, erinnerte sich Maja, und es reizte sie, ihn zu fragen, was denn ein Märchen mit einem Sklavenaufstand zu tun habe. Der Funktionär kam auf sie zu. Er trug das Abzeichen BKP am Revers, drei klobige rote Buchstaben auf goldenem Grund, und schüttelte ihr die Hand. Als sie in sein Gesicht mit dem starren Blick sah, schwieg sie. Sie wollte keinen Ärger. Später kamen ihre Freunde, Verwandten und Kollegen in das Restaurant Hotel Doiena in der Nähe des Theaters, um mit ihr zu feiern. Sie waren die einzigen Gäste in dem ehemaligen Ballsaal mit seinen verstaubten Lüstern und angelaufenen Spiegeln. Zwei Kellner wiesen ihnen einen langen Tisch zu und ließen auf sich warten, ehe sie die Speisekarten brachten. Als sie die Bestellung aufnahmen, mahnten sie zur Eile, da die Küche gleich geschlossen werde. Maja war glücklich, dass