Beschreibung
"Die Grenzen zwischen Fiktion und Historie vermischt gekonnt der Journalist Pierre Assouline, der intensiv über die Rothschild-Dynastie recherchiert hat. Feinfühlig und mit enormer erzählerischer Kraft entfaltet Assouline in Das Bildnis der Baronin das Porträt einer jüdischen Familie, die in alle großen Ereignisse ihrer Epoche verstrickt war ..." Alice Werner, börsenblatt
Autorenportrait
Pierre Assouline wurde 1953 in Casablanca geboren und lebt heute in Paris. Er war Chefredakteur der Kulturzeitschrift "Lire", schrieb viel beachtete Biographien und Essays und arbeitet gegenwärtig für "Le monde". Seine Romane "La Cliente" und "Double vie" waren Erfolge bei Kritik und Publikum. Für seinen Roman "Lutetias Geheimnisse", der in Deutschland 2006 bei Blessing erschien, erhielt er den Prix de la Maison de la Presse. Sein nachfolgender Roman "Das Bildnis der Baronin" - Originaltitel: Le portrait - war in Frankreich wochenlang auf der Bestsellerliste.
Leseprobe
Nichts tröstet, weil nichts ein Leben ersetzen kann. Selbst erzwungene Abschiede werden als Verlassenwerden erlebt. Dennoch quälen mich keine Schuldgefühle im Augenblick meines Todes. Trotz des Aufruhrs um mich herum bin ich friedlich und heiter gestimmt. Hinter den mühsam unterdrückten Tränen und dem immer noch zu lauten Geflüster erahne ich die tiefe Niedergeschlagenheit meiner Kinder und das stumme Unglück ihrer Kinder. Sie waren der einzige Grund für das letzte Aufflackern meiner Besorgnis. Die Zeit kann mir nun nichts mehr anhaben, weder mit ihrem Dahinplätschern noch mit ihren Erschütterungen. Ich bin sozusagen auf die einfachste Form zurückgeführt worden - bereit, mich vor meiner Nachkommenschaft mit Schmetterlingsflügeln zu präsentieren.
Vor wenigen Stunden erst haben sich meine Seele und mein Körper getrennt, um sich danach dort wiederzufinden, wo niemand sie suchen wird. Mittlerweile befinde ich mich in aller Erhabenheit an der Wand des großen Salons in unserem Haus in der Rue Laffitte 19 in Paris. Ich werde bald bei meinem Sohn Alphonse in der Rue Saint-Florentin leben, an der Ecke der Place de la Concorde, danach im Schloss Ferrieres, und später wird man mich für einige Jahre in die Verbannung nach Neuschwanstein schicken, auf eine Reise, der andere folgen werden, freudige und freiwillige in die schönsten Museen der Welt, bis meine Tage wieder einen friedlicheren Verlauf nehmen, auf der Île de la Cite, im Hotel Lambert.
Vielleicht entwickeln Seelen, die von Natur aus der Nostalgie zuneigen, eine besondere Fähigkeit zum Erinnern. In der Tat genügten an jedem der Orte, an denen ich verweilte, ein Detail oder eine Farbe, eine Silhouette oder ein Blick, ein Wort oder ein Duft, um die Vergangenheit heraufzubeschwören, um mir eine Geheimtür zu öffnen, die es mir erlaubte, wieder einmal durch das ungewisse und unerklärliche Wirken der Erinnerung in mein Innerstes einzutauchen. Ich liebe an der Gegenwart das geheime Band, das sie mit der Vergangenheit verbindet, und die Sanftheit, mit der sie uns in die verborgensten Winkel unseres Lebens zurückführt. Man empfängt, man feiert, man gibt weiter: Wenn darin der Sinn eines Lebens besteht, so bleibt danach nichts anderes mehr, als still fortzugehen.
Jean-Auguste-Dominique Ingres hat mich zwischen 1844 und 1848 gemalt, aber ich lebe eigentlich erst seit diesem Vormittag in dem Portrait, seit diesem ersten Septembertag des Jahres 1886, dem Tag meines Todes. Diese Frau, die mich abbildet, und ich, wir werden künftig eins sein, für immer lebendig, solange die Meinen für uns sorgen und uns vor den Barbaren schützen können. Durch ein Paradox, das
diese eigenartige Situation hervorgebracht hat, stehe ich gleichzeitig außerhalb der Welt und im Mittelpunkt des Lebens dieser Familie. Ich bin das Portrait.
I
Rue Laffitte
Ich habe keinen Wert darauf gelegt, dem Tod mit offenen Augen zu begegnen. Und selbst wenn, so hätte ich ihn wahrscheinlich nicht erkannt. In meinen letzten Lebensjahren wusste ich, dass mir bis zum Ende meines Weges nur noch wenig Zeit bleiben würde, und war von der Furcht besessen, das Augenlicht zu verlieren. Trotz einer Operation am grauen Star quälte mich die Aussicht, mein Sevres nicht mehr sehen zu können, dieses grüne Porzellanservice, das François Boucher Stück für Stück als Unikat gestaltet hatte. Das hätte mich der Welt endgültiger entrissen als der verheerendste Wundbrand.
Im Grunde genommen bin ich gegangen, wie ich es mir erhofft hatte, in der Stille unseres Chateau de Boulogne, umgeben von der Zuneigung der Menschen, die mir nahestehen. Seit gut einem Jahr hatten mich Gichtanfälle geplagt. Heftige Schmerzen in der Brust verboten es mir, ausgestreckt zu liegen, aber ich wünschte mir eine diskrete, unauffällige und stille Agonie hinter den Ripsvorhängen meines Krankenlagers. Man muss bis zum Letzten auf seinen Stand achten und einen Hauch von Ironie wahren.
Die Tage verbrachte ...