Lebensfäden - Cover

Lebensfäden

Zehn autobiographische Versuche

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783939045199
Sprache: Deutsch
Umfang: 476 S.
Format (T/L/B): 3.5 x 20 x 13.1 cm
Auflage: 1. Auflage 2012
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Ekkehart Krippendorff, 1934 geboren, emeritierter Professor der Freien Universität Berlin, darf von sich behaupten, der erste ausschließlich politikwissenschaftliche Student und Promovend in Deutschland zu sein. Er hat als kleiner Junge noch die letzten Kriegsjahre miterlebt, war 1960 bis 1963 als Fulbright-Stipendiat Augenzeuge der Aufbruchsjahre in den USA und wurde Mitbegründer der deutschen Friedensforschung. Mit seinem Rauswurf aus der FU 1965 begann die deutsche Studentenbewegung, zu deren Sprechern er 1968 gehörte. In den Siebzigerjahren lehrte er in Italien und erlebte dort das "rote Bologna". Wissenschaftlich beeinflusste er über die Universität hinaus soziale Protestbewegungen mit seiner historisch-systematischen staatskritischen Monographie "Staat und Krieg", die den programmatischen Untertitel trägt: "Die historische Logik politischer Unvernunft"; es folgten zahlreiche Publikationen zur Kritik des Militärs und der Außenpolitik. Später entdeckte er die Literatur für eine herrschaftskritische Politikwissenschaft - zwei Monographien über Shakespeare - und seit Jahren schreibt er Theaterkritiken. Krippendorff hat bei Goethe einen Hinweis gefunden, der ihn dazu ermutigte, sein Leben exemplarisch zu entflechten, Fäden thematisch herauszuziehen und als Erzählungen mitzuteilen - für diesen eine Geste größter Höflichkeit. "Das Gewebe unseres Lebens und Wirkens bildet sich aus gar verschiedenen Fäden, indem sich Notwendiges und Zufälliges, Willkürliches und Rein-Gewolltes, jedes von der verschiedensten Art und oft nicht zu unterscheiden, durcheinanderschränkt." (Dichtung und Wahrheit). Was Ekkehart Krippendorff selbst bei seinem Rückgang in die eigene Geschichte entdeckte oder erinnerte, schien ihm nicht zuletzt auch zeitgeschichtlich mitteilenswert. Es sind daraus zehn in sich geschlossene und zugleich "durcheinandergeschränkte" Autobiographien, eben "Lebensfäden", geworden: Krieg, Theater, Universitäten, Nazismus, Amerika, Juden, Italien, DDR, Musik, Religion - und ein historischer Epilog, der die bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgbare Familiengeschichte als Mikro-Spiegel deutscher Geschichte lesbar macht.

Leseprobe

Das Unternehmen wird entschuldigtDie Frage: ob einer seine eigene Biographie schreiben dürfe, ist höchst ungeschickt. Ich halte den, der es tut, für den höflichsten aller Menschen." (Goethe) Aber ist es nicht im Gegenteil geradezu unhöflich, mit dem Anspruch aufzutreten, andere Menschen, ZeitgenossInnen, gar Nachgeborene sollten sich für sie interessieren, ohne dass nachweisbar ein öffentliches Interesse geltend gemacht werden kann? Hat doch jeder seine und jede ihre Biographie: Was sollte an der eigenen so Besonderes sein, um Leserinnen und Lesern guten Gewissens die Investition von Zeit und Geld für ein Buch zuzumuten? Die Frage so stellen heißt, sie negativ zu beantworten - wäre da nicht der Einwand Me-tis, dass das Aufschreiben der eigenen Geschichte uns befähigt, sorgfältiger, bewusster, auch sparsamer, umsichtiger, schonender mit dem eigenen Leben umzugehen: Wir haben nur dieses eine und darum ist die Verantwortung groß. In der Reflexion unserer eigenen Geschichte legen wir Rechenschaft ab. Me-ti meint: Rechenschaft vor uns selbst. Aber dazu bedürfte es nicht der Öffentlichkeit, welche Geschriebenes und Buchgedrucktes zum Adressaten hat. Also vor wem? Vor der Mit- oder der Nachwelt? Zumindest Letzteres enthält folgenreiche Annahmen - unter anderem die, dass es für den Biographen eine Nachwelt gebe, von der erinnert oder in der nach seinem Tod erinnert aufgehoben zu werden ihm nicht gleichgültig ist. Die meisten Menschen würden dem zustimmen. Niemandem ist seine postmortale ,Existenz' wirklich gleichgültig. Auch der radikalste Nihilist wäre empört bei dem Gedanken, sein toter Körper würde in der nächsten Mülldeponie entsorgt oder streunenden Hunden zum Fraß vorgeworfen werden. Aber denken wir dabei auch über die Voraussetzungen nach, die einer Sorge um den Platz und das Urteil in der Erinnerung der Nachgeborenen zugrunde liegen? Da öffnen sich Abgründe von Fragen, Fragen nach unserem Tod und einem Danach, die nirgends so bohrend gestellt werden wie von Hamlet in seinem großen Sein-oder-Nichtsein-Monolog:To die, to sleep;To sleep! Perchance to dream - ay, there's the rub:For in that sleep of death which dreams may come,When we have shuffled off this mortal coil,Must give us pause - Erinnerung ist alles - alles ist Erinnerung. Die Ungewissheit über das Danach hat zur Bedingung die Gewissheit des Davor. Nur weil wir das Eine besitzen, können wir uns um das Andere Sorgen machen, wobei die Sorge in dem Maße erträglicher wird, in dem die Erinnerung lebendig ist. Darauf verweist der Philosoph Hans Jonas: Erinnerung ist die Bedingung der Möglichkeit von bewusster Gegenwart - und schließlich auch von Zukunft des Menschengeschlechts, das selbst die Summe aller seiner Mitglieder ist: Diese gehen in ihm auf als Erinnerte und haben insofern Dauer. Die Geschichte der Menschheit ist deswegen erzählbar, weil alle, die je gelebt haben, jede und jeder ein Interesse daran hatten, Spuren zu hinterlassen: Von ihren Gräbern bis zu Artefakten, von Monumenten bis zur schriftlichen Dokumentation ihrer Existenz. Die absichtsvoll hinterlassenen Spuren, und seien sie noch so mikroskopisch gering, sind Zeugnisse des Trotzes gegen die Angst der Ungewissheit, "Was im Todesschlaf für Träume kommen können, / Wenn wir den Lärm des Irdischen los sind." Das Individuum hat keine zeitlich unbegrenzte Zukunft, es ist sterblich und endlich. Unsterblich hingegen ist das Menschengeschlecht, dem wir alle angehören (sofern es sich nicht selbst ein - technisch inzwischen möglich gewordenes - Ende setzt). Für das Menschengeschlecht gilt die Zukunftsgewissheit aufgrund seiner kollektiv erinnerten und tagtäglich fortgeschriebenen Vergangenheit. In dieser Unsterblichkeit, dem "kulturellen Gedächtnis" (Assmann), ist auch letztlich jedes Individuum als Erinnertes aufgehoben, indem es in dieses "Gewebe" seine eigenen "Lebensfäden geschlagen" hat (Arendt). Kant: "Das Vermögen, sich vorsätzlich das Vergangene zu vergegenwärtigen, ist das Erinnerungsvermögen und das Vermögen,