Es ist ein einziger Satz. Ganz harmlos und scheinbar beiläufig dahingesagt auf dem 75. Geburtstag der Matriarchin, doch dieser Satz bewirkt, dass kein Stein auf dem anderen bleibt und jedes einzelne Familienmitglied einer Mittelstandsfamilie die bisher bekannte Rollenverteilung überdenken und sich einen neuen Platz im Gefüge suchen muss.
Schon lange habe ich nicht mehr ein so lakonisches und dadurch nur umso beeindruckenderes Buch mehr gelesen! Silvia Tschui ist tatsächlich, meiner Meinung nach, nicht weniger als ein Meisterwerk gelungen! Mit "Der Wod" hat sie nicht nur das brillante Psychogramm einer Familie entworfen, sondern auch noch – wie nebenbei – eine Chronik des 20. Jahrhunderts: zwischen Mecklenburg und München, von Zürich in die USA und alles wieder zurück, von der Weimarer Republik in die Neuzeit, über Hitler-Deutschland ins Zürich von DaDa, von Geheimbünden und Nazis, von Widerständlern und Künstlern.
Und immer dann, wenn man als Leser*in gerade glaubt, verstanden zu haben, wer auf welcher Seite von Gut und Böse steht, dreht sich das Karussell der Geschichte weiter und man muss von neuem versuchen heraus zu finden, wer das (vermeintlich) Richtige tut und wem es nur darum geht, sich selbst am bequemsten durchs Leben zu manövrieren, auf wessen Kosten das auch immer gehen mag.
Dieses Buch entwickelt so langsam und unbemerkt einen dermaßen starken Sog, dass ich es in einem Zug (und einer längeren Nacht) runtergelesen habe, ohne es überhaupt zu bemerken. Und obwohl das nun schon wieder einige Wochen her ist, merke ich, wie ich unwillkürlich immer wieder in Gedanken an die verschiedenen Protagonist*innen abschweife und ich kann definitiv sagen: Obwohl ich angestrengt versucht habe, mich vom Mittelweg fern zu halten – mich hat definitiv der Wod geholt!