Gesammelte Erzählungen I

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442077595
Sprache: Deutsch
Umfang: 669 S.
Format (T/L/B): 4.5 x 18.5 x 11.6 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Seine Schauplätze sind ferne exotische Länder mit Namen, die nach Verheißung klingen: Marokko, Corazón, Paso Rojo oder Cold Point. Seine Helden sind rastlose Aussteiger, Vertreter der "lost generation", die der Enge und Konvention des zivilisierten Alltagslebens entfliehen. Aber über den fremden Orten, von denen Bowles' Figuren magisch angezogen werden, liegt in Wahrheit eine Atmosphäre unfassbarer Bedrohung. Fernab der Schranken des zivilisierten Alltagslebens brechen lange verdeckte Abgründe der menschlichen Existenz auf, in denen Bowles' Gestalten mit der oft erschreckenden Wahrheit über sich selbst konfrontiert werden.

Leseprobe

Tee auf dem Berg Die Post hatte ihr am Morgen einen großen Vorschuß von ihrem Verleger gebracht. Zumindest erschien er ihr groß hier in der Internationalen Zone, wo das Leben billig war. Sie hatte den Brief am Tisch des Straßencafés gegenüber vom Spanischen Postamt geöffnet. Durch das Gefühl, das sie beim Anblick der Ziffern auf dem Scheck überkam, wurde sie unversehens großzügig den Bettlern gegenüber, die ständig vorbeigingen. Später legte sich die Erregung und wich einer vorübergehenden Niedergeschlagenheit. Die Straßen und der Himmel wirkten heller und stärker als sie. Durch die Umstände bedingt, hatte sie nur wenige Freunde in der Stadt, und obgleich sie jeden Tag regelmäßig an ihrem Roman arbeitete, mußte sie sich eingestehen, daß sie manchmal einsam war. Driss kam vorbei, eine makellose malvenfarbene Dschellaba um die Schultern und einen neuen Fez auf dem Kopf. »Bonjour, Mademoiselle«, sagte er und vollführte eine übertriebene Verbeugung. Er widmete ihr seit mehreren Monaten unermüdlich seine Aufmerksamkeit, doch bisher war es ihr gelungen, ihn auf Distanz zu halten, ohne seine Freundschaft zu verlieren; er war ein angenehmer Begleiter an den Abenden. An diesem Morgen begrüßte sie ihn herzlich, ließ zu, daß er ihre Rechnung beglich, und schlenderte mit ihm die Straße hinauf, eingedenk der Kommentare, die ihre Geste unter den übrigen Arabern im Café provozierte. Sie bogen in die Rue du Télégraphe Anglais ein und schritten langsam den Hügel hinab. Sie hoffte, durch die Bewegung etwas Appetit für den Lunch zu entwickeln; in der Mittagsluft war es oft schwierig, Hunger zu haben. Driss war so europäisiert, daß er auf Apéritifs vor den Mahlzeiten bestand; statt jedoch beispielsweise zwei Dubonnets zu trinken, bestellte er einen Gentiane, einen Byrrh, einen Pernod und einen Amer Picon. Danach legte er sich meistens hin und verschob das Essen auf später. Vor dem Café an der Marshan Road blieben sie stehen und setzten sich an einen Tisch neben einer Runde von mehreren Schülern des Lycée Français. Die Jungen tranken Limonade und blätterten in ihren Notizbüchern. Plötzlich wandte Driss sich ihnen zu und begann ein oberflächliches Gespräch. Kurz darauf wechselten sie an den Tisch der Schüler. Nacheinander wurde sie allen Schülern vorgestellt; sie bezeugten ihr ein feierliches »enchanté«, blieben jedoch auf ihren Plätzen sitzen. Nur einer mit Namen Mjid erhob sich kurz von seinem Stuhl und setzte sich mit besorgtem Blick schnell wieder hin. Er war derjenige, der sie sofort interessierte, vielleicht, weil er ernster war, sanftäugig und trotzdem lebhafter und hitziger schien als die anderen. Er sprach sein gekünsteltes Theater-Französisch sehr schnell, mit weniger starkem Akzent als seine Mitschüler, und er begleitete seine Sätze regelmäßig mit einem Anflug von Lächeln statt der korrekten oder zu erwartenden Betonung. Neben ihm saß Ghazi, plump und schwarz. Sie sah sofort, daß Mjid und Ghazi eng befreundet waren. Sie antworteten wie aus einem Mund auf ihre Fragen oder Schmeicheleien, wobei Ghazi es jedoch vorzog, die wichtigen Sätze Mjid zu überlassen. Er hatte einen Sprachfehler, und er schien langsamer im Denken. Innerhalb weniger Minuten hatte sie herausgefunden, daß die beiden seit zwölf Jahren gemeinsam die Schule besuchten und immer in derselben Klasse gewesen waren. Das erschien ihr seltsam, da Ghazis mangelnde Reife um so deutlicher wurde, je mehr sie ihn beobachtete. Mjid bemerkte ihren überraschten Ausdruck und sagte: »Ghazi ist sehr intelligent, wissen Sie. Sein Vater ist Oberster Richter am Marokkanischen Gericht der Internationalen Zone. Eines Tages werden Sie ihn besuchen und sich mit eigenen Augen überzeugen können.« »Oh, aber ich glaube Ihnen doch«, sagte sie überlaut und verstand jetzt, warum Ghazi bisher trotz seiner offensichtlichen Einfalt keine Schwierigkeiten im Leben gehabt hatte. »Ich habe wirklich ein wunderschönes Haus«, setzte Ghazi hinzu. »Würden Sie gerne dort leben? Sie sind herzlich willkommen Leseprobe