Beschreibung
"Paul Bowles' Gestalten sind Pilger, die im Fremden nach Erlösung suchen - doch sie finden Gewalt, Wahnsinn und Tod. Die gleißende Wüste, der unbewegbare Dschungel sind Landschaften, die innere Leere und die Verwirrung der Gefühle nicht aufheben, sondern tödlich verstärkt zurückspiegeln. Bowles ist ein kühler Beobachter menschlicher Abgründe. Nichts ist außergewöhnlich, nichts ist schockierend, nichts ist zu bedauern oder zu verurteilen. Alles ist so, wie es ist." - Cosmopolitain
Leseprobe
Er kam mittags in Tanger an und ging direkt zum Haus. Im Regen wirkte der Vorhof wenig einladend. Mehrere abgestorbene Bananenstauden waren umgefallen und faulten auf dem gekachelten Boden vor sich hin. Sogar als die alte Amina, die ihn von der Küchentür aus gesehen hatte, durch den Regen watschelte, um ihn zu begrüßen, war er sich des Stapels leerer Lattenkisten und des Rahmens einer verrosteten Gartenschaukel, der hinter ihr aufragte, bewußt. Beim Mittagessen schmeckte er seine Kindheit in Aminas Suppe wieder. Das Rezept hatte sich nicht verändert; noch immer überwogen Kürbis und Kreuzkümmel. Plötzlich spürte er den kalten Windzug, der durch das Zimmer strich. Er rief nach Amina: Das große Fenster in der Küche war kaputt. Er erinnerte sie daran, daß man Geld geschickt hatte, um es zu reparieren. Aber der Wind sei gekommen und habe es wieder eingedrückt, sagte sie, und dabei hätten sie es dann bewenden lassen. Er wies sie an, die Tür zur Küche zu schließen. Als sie es getan hatte, bemerkte er keinen Unterschied. Er ging durch die Räume. Es war nur die leere Hülse des Hauses, das er in Erinnerung hatte, die meisten Möbel waren verschwunden, es gab weder Teppiche noch Vorhänge. Als er entdeckte, daß keiner der sechs Kamine richtig zog, bekam er erste Zweifel, ob das Haus sich wirklich für die Weihnachtsferien eignete - zumindest in diesem Jahr. Es war das einzige, was seine Mutter ihm - wenn auch widerwillig - hinterlassen hatte. »Was willst du mit dem Haus in Tanger? Du wirst es doch nicht benutzen.« »Aber ich hänge daran«, hatte er eingewandt, »schließlich bin ich darin aufgewachsen.« Sobald sie sich entschieden hatte, es ihm zu vermachen, fing sie an, alle Wertgegenstände zu entfernen. Ein Teppich ging an einen Freund, eine Kommode an einen zweiten, eine Truhe wiederum an jemand anderen, so daß das Haus mehr oder weniger in seinem gegenwärtigen Zustand gewesen sein mußte, als sie starb. In den acht Jahren seit ihrem Tod hatte seine Frau ihn mehrmals gedrängt, eine »Bestandsaufnahme« zu machen; da ihr Interesse jedoch nur einem möglichen Verkauf galt - den er niemals in Erwägung ziehen würde -, hatte er nichts unternommen. Das Haus war in einem noch schlechteren Zustand, als er erwartet hatte. Er hatte sich der naiven Vorstellung hingegeben, daß die Dienstboten wenigstens versuchen würden, es instand zu halten, solange er pünktlich jeden Monat Geld schickte. Er hatte auf warmes Wasser gehofft, um sich den Kaminruß von den Händen zu waschen, doch Mohammed erklärte ihm, daß der Heizkessel schon seit einem Jahr vor Madames Tod nicht mehr funktionierte. Der Mann, den sie für die Reparatur bestellte, habe gesagt, der Kessel müsse durch ein neues System ersetzt werden, woraufhin sie sich mit kaltem Wasser begnügte. Während er sich mit einem zerschlissenen Gästetuch aus Leinen die Hände abtrocknete (sie hatte alle Badetücher weggegeben), dachte er grimmig: Sie konnte der alten Madame Schreiber einen Teppich im Wert von mehreren tausend Pfund schenken, aber sie konnte es sich nicht leisten, ein heißes Bad zu nehmen. Er trat hinaus in den Garten. Der Regen hatte aufgehört, aber der Wind fuhr durch die Bäume, die sich unter seinem Ansturm bogen, so daß noch vereinzelt große Tropfen herabfielen. Er betrachtete die riesige weiße Fassade, verwundert, daß er sie je als majestätisch hatte empfinden können. Jetzt wirkte das Haus wie ein Pavillon, wie ein Überbleibsel einer längst vergessenen Ausstellung. Gegen Ende des Nachmittags war er völlig durchgefroren. Das Haus lag zu nah am Meer. Der Wind kam über die Klippen, angefüllt mit dem Salzdunst der Wellen, und sprühte ihn gegen die Fenster. Wenn er hinaussah, erkannte er den Garten nur schemenhaft hinter jenem salzigen Vorhang, der die Scheiben verschleierte. Im Wandschrank der Bibliothek fand er einen elektrischen Heizofen. Er war alt, gab nur eine bescheidene Wärme ab. Bei verriegelten Fensterläden und geschlossener Tür zog er wahllos ein Buch aus dem Regal und warf sich in einen Se Leseprobe