Beschreibung
Juan Marsé, der große alte Mann der spanischen Literatur, erzählt vom Sommer 1945 in Barcelona, von einer Frau und drei Männern. Und von dem vierzehnjährigen David, der nach Wahrhaftigkeit sucht in einem System, das auf Lügen gebaut ist. Marsé beweist mit diesem Roman, dass er zu Recht zu den großen spanischen Romanciers des 20. Jahrhunderts gezählt wird.
Leseprobe
Im Saal setzt die Vorführung mit gutturalen Stimmen und einer makabren Musik wieder ein. David schaut in einen leprösen Spiegel, reibt sich mit dem Handrücken heftig die Augen und kehrt zu Pauli zurück, der mit einer matten Bewegung wieder seinen Kopf auf Davids Schulter legt und in die Dunkelheit schnüffelt. Und was macht David oder was läßt er mit sich machen, während er seine ganze Aufmerksamkeit auf Mister Talbotts Ausschreitungen unter dem fatalen Einfluß des Mondes richtet? Er beschränkt sich darauf, ab und zu sein Gesicht abzurücken, um seine Nase den leichten Schwefelschwaden zu entziehen, die von dem rasierten Schädel des Freundes aufsteigen, und dessen Atem, durchsetzt mit Blutgeruch und kaum unterdrückten Hustenkrämpfen, zu entgehen. Bis er die Hand auf seinem Schenkel wahrnimmt und die teigige Stimme: "So eine zarte Haut. Kein Pickel, kein Haar, nichts. Un-ver-geß-lich." "Marinierte Eier." "Und diese kleine Beule?" "Welche kleine Beule?" "Hier, in der Tasche." "Ach das. Ein Feuerzeug." "Wo hast du das her? Zeigst du&39;s mir?" "Das ist ein goldenes Dupont. Ich hab&39;s gefunden." "Mein Gott, du Zwerg, was für ein Dusel! Wo?" David überlegt einen Augenblick. "Das sage ich dir nicht." "Warum nicht, Mensch?" "Weil man auf der Hut sein muß. Wenn du die Wahrheit sagst, entdecken sie dich sofort." "Entdecken dich sofort...?" "Außerdem ist es ein Dupont vom Ramsch. Es ist gefälscht, siehst du nicht? Aber mir ist das egal. Schau es an, du Dummbeutel!" Er hält das Feuerzeug vor die verschwollene Nase und öffnet mit einer einstudierten Bewegung des Daumens den Deckel, läßt mit der Kuppe den gezackten Ring über dem Feuerstein kreisen, und die Flamme schießt auf. Mit dem warmen Metall des Feuerzeugs in der Faust und vor dieser Flamme, die Paulinos schielende Augen auf sich zieht, fühlt David sich für einen kurzen Augenblick unbesiegbar und ewig. Dann drückt er den Deckel mit demselben Daumen zu - klink! -, und die Flamme erlischt. Aus dem Kegel silbrigen Lichts, das der Projektor ausschickt, löst sich langsam ein blauer Schatten und stellt sich im Seitengang neben ihn. "Komm mit, Junge", sagt der Schatten mit heiserer Stimme. Ein junger Mann, in einen fettverschmierten Blaumann gezwängt, legt die Hand auf Davids Schulter, packt ihn am Hemdkragen, hebt ihn aus dem Sitz und führt ihn gangaufwärts zum Ausgang. David schaut ihn aus dem Augenwinkel an: Es ist der Vorführer. Hat er die Kabine verlassen und ersetzt ihn dort gerade jemand, oder hat er heute Nachtschicht? Als sie gegen den modrigen grünen Vorhang des Eingangs stoßen, bleibt der Mann stehen und holt aus der Tasche einen geschlossenen, verknitterten Briefumschlag. "Versteck ihn", sagt er, als er ihn David übergibt. "Weißt du, worum es geht?" "Ja, Señor." Mit der gleichen Hast und heimlichen Erregung wie vormals, als er die Botschaften noch aus den Händen von Herrn Auge empfing, steckt David den Umschlag unter sein Hemd. "Ab jetzt übernehme ich das", sagt der Vorführer. "Alles klar, Junge?" "Ja, Señor. Was geschieht mit Herrn Auge?" "Weiß ich nicht. Sag deiner Mutter, daß ich ihn bei der Übergabe vertrete, aber nur kurzfristig. Ich habe andere Verpflichtungen. Und komm nicht zur Matinee. Am ersten Samstag im Monat." "Herr Auge wird sterben, nicht wahr?" sagt David. "Deshalb hat er mir seinen Hund geschenkt." "Das wäre das Beste, was ihm passieren könnte." "Dem Hund?" "Beiden. Aber ich weiß nichts. Ich möchte weder wissen, was in den Umschlägen steckt, noch woher sie kommen. Sie werden am Schalter für deine Mutter abgegeben, das ist das einzige, was ich weiß. Und du auch. Hast du verstanden?" "Ja, Señor." "Ich muß zurück in die Kabine. Nicht vergessen: am ersten Samstag im Monat. Aber such nicht nach mir, komm nie rauf in die Kabine ...
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