Mit diesem Buch erhalten Sie das E-Book inklusive!Ein funktionierender Orchesterapparat ist ein Paradebeispiel für effiziente Management-, Führungs- und Konfliktlösungsstrategien. Denn nirgendwo sonst arbeiten Spitzenkräfte täglich stundenlang auf so engem Raum zusammen. Wie viele Solisten verträgt ein Team? Wie entsteht ein Klima, in dem der Einzelne seine Begabung zum Wohle aller nutzt? Wie werden Entscheidungen herbeigeführt, wie wird kommuniziert?Der Dirigent und Kommunikationsexperte Christian Gansch zeigt anhand vieler Beispiele, was sich Unternehmen von Orchestern abschauen können.
Christian Gansch, geboren 1960, ist klassisch ausgebildeter Musiker, Musikproduzent und Dirigent. Aufgrund seiner reichen Erfahrungen im Spannungsfeld von Kunst und Wirtschaft ist Christian Gansch seit vielen Jahren erfolgreich als Referent tätig. Er hat den Trend des Orchester-Unternehmen-Transfers begründet. Christian Gansch lebt in München.
Einführung
Manche Unternehmen verwenden viel Zeit und Energie darauf, einprägsame Leitbilder für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verfassen. Diese stammen meistens aus dem vertrauten idealistischen Schlagwort-Repertoire. So steht beispielsweise die Forderung nach einer besseren Kommunikation und Zusammenarbeit fast überall auf der Agenda. Und es kann bisweilen der Verdacht entstehen, dass derartige Leitbilder den Zweck erfüllen sollen, echte menschliche Vorbilder aus Fleisch und Blut und mit Herz und Seele einfach zu ersetzen. Meine langjährigen Erfahrungen in der Unternehmens- und Orchesterwelt haben mir gezeigt, dass hehre Begriffe nur leere Worte bleiben, wenn nicht gleichzeitig eine Unternehmenskultur geschaffen wird, in der engagierte Rhetorik und alltägliche Praxis auf natürliche und nachvollziehbare Weise zusammenwirken.
Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass sich unsere Einstellungen und Verhaltensweisen selten aufgrund verbaler Vorgaben verändern. Viel lieber lassen wir uns von Geschichten beeinflussen, die uns emotional bewegen und damit nachhaltig inspirieren. Vor diesem Hintergrund ist ein sinfonischer Orchesterapparat ein ideales Sinnbild für die in allen Bereichen und Branchen entscheidende Frage, wie aus einer enormen Vielfalt an Charakteren, Instrumenten und Funktionen eine schlagkräftige Einheit entstehen kann. Wobei sich auch in Berufsorchestern die einzelnen Kräfte nicht automatisch als fruchtbare Quelle für das Ganze verstehen - schließlich arbeiten dort bis zu hundert international rekrutierte Profis zusammen, die von ganz unterschiedlichen Interessen angetrieben werden. Deswegen müssen sich Orchester ihre am Ende beeindruckende Qualität und spielerisch leicht wirkende Homogenität auf Basis klar definierter Arbeitsabläufe tagtäglich aufs Neue erarbeiten. Die Strukturen von Orchestern und Unternehmen weisen verblüffende Parallelen auf, obwohl Konzertbesucher beim Anblick eines solchen Ensembles oft den Eindruck gewinnen, dass es sich dabei um eine anachronistische Organisationsform handele: In der Mitte thront der das Geschehen dominierende Dirigent, während die Musikerinnen und Musiker blind seinen Willen befolgen. Aber das äußere Erscheinungsbild trügt, vor allem wenn man bedenkt, dass jedes Orchester aus über zehn Abteilungen mit jeweils bis zu drei Führungskräften besteht. Dem Publikum ist oft nicht bewusst, dass in einem Berufsorchester ausschließlich Spezialisten sitzen, die seit ihrer Jugend eine intensive Ausbildung an Konservatorien und Musikhochschulen mit Engagement und Disziplin absolviert haben und die im Laufe der Jahre natürlich ihre ganz persönlichen Visionen entwickelten, was die technische Umsetzung und künstlerische Interpretation von Musik betrifft. Trotz dieser schwierigen Ausgangslage gelingt es den einzelnen Orchesterprofis im entscheidenden Moment, gemeinsam Spitzenleistungen zu erbringen, da ihnen bewusst ist, dass sie für den Erfolg stets aufeinander angewiesen sind, unter dem Motto: aufeinander hören - miteinander handeln.
Der orchestralen Arbeitssituation wohnt ein hohes Konfliktpotenzial inne, weil die Musikerinnen und Musiker bei ihrer täglichen stundenlangen Arbeit eine belastende räumliche Enge ertragen müssen, ohne die geringste Chance, sich kurzfristig für eine Weile in ein Büro zurückziehen zu können. Jeder Einzelne ist ein offenes Buch für sein Umfeld, kein Fehler kann kaschiert oder anderen untergeschoben werden. Selbstmotivation und Selbstverantwortung sind daher entscheidende Faktoren für den orchestralen Erfolg.
Dementsprechend ist das Feedback im Orchester stets direkt und schonungslos. Aber ohne eine offene, ehrliche, aber zugleich entspannte Feedback- und Kommunikationskultur würde der Druck, der andauernd auf den Schultern aller Musiker lastet, ins Unermessliche steigen und irgendwann würde er wohl das ausbalancierte orchestrale Gefüge sprengen.
In Bezug auf das Thema "Veränderungsbereitschaft" stellt ein Orchester eine vorbildliche Metapher für Unternehmen dar. Denn bei drei bis vier Konzerten pro Woche müssen alle Kräfte verinnerlicht haben, dass sich die Zuhörer von heute und morgen niemals für das Konzert von gestern interessieren, das Publikum somit tagtäglich neu erobert und begeistert werden muss: Erfahrung ja, Routine nein. Auf Basis dieser Geisteshaltung wird das Thema "Change" im Orchester zur Alltagskultur, vorausgesetzt die Führungskräfte betrachten es als ihre dringlichste Aufgabe, die Selbstmotivation der Mitarbeiter zu aktivieren, indem sie nicht einfach nur Befehle geben, sondern in erster Linie Überzeugungsarbeit leisten.
Dass die Qualität eines unternehmerischen oder orchestralen Miteinanders nicht von plakativen Schlagworten, sondern letztlich von zwischenmenschlichen Faktoren bestimmt wird, beweist das folgende Beispiel aus der Orchesterpraxis: Der Dirigent Sergiu Celibidache arbeitete im langsamen Satz der 4. Sinfonie von Brahms mit den Streichern an einem warmen, ruhig fließenden Klang. Für diese wunderbaren Takte benötigen die Musiker kaum eine zusätzliche Motivation seitens der Führungskraft Dirigent, denn eindringlich offenbart sich hier die Schönheit und Würde der Musik. Aber mitten im Fluss dieser Passage brach der Maestro plötzlich unwirsch ab. Mit verbissener Miene und heiserer Stimme fauchte er das Orchester an: "Spielen Sie entspannt! Ganz locker bitte!" Unvermittelt verkrampften sich die Finger der Streicher, den Bläsern blieb gleich ganz die Luft weg. Aber nach einigen Schrecksekunden brach das gesamte Orchester in schallendes Gelächter aus, da unvermittelt jeder Einzelne die eklatante Diskrepanz zwischen Rhetorik und Umsetzung, also zwischen Theorie und Praxis empfand.
Das spontane Lachen des gesamten Ensembles klärte die Situation und führte auch dem Dirigenten den Widerspruch zwischen seiner Ausdrucksweise und dem Inhalt, den er vermitteln wollte, klar vor Augen. Er reagierte aber sehr weise, ohne seine missglückte rhetorische Vorgabe zu verteidigen: Ruhig und entspannt, ohne aufgesetzte Posen hob er - selbst ein wenig schmunzelnd - seine Hände und gab einen kleinen, unaufdringlichen Einsatz. Dann führte er mit feinen Bewegungen durch die Takte der Brahms'schen Musik. Er war ganz und gar auf den Inhalt, also auf das Wesen der Musik konzentriert. Ein offenes Miteinander entwickelte sich im Orchester, eine natürlich fließende Interaktion aller beteiligten Kräfte. Sein formender Dirigierstil inspirierte die Musiker, das Geflecht der Stimmen lebendig zu gestalten, während der Dirigent wach und wahrnehmungsfähig das Wechselspiel der Kompetenzen und Interessen organisierte.
Es ist übrigens nicht meine Absicht, Ihnen mit meinem Buch das einzig wahre und glücklich machende Erfolgsmodell anpreisen zu wollen. Mir geht es letztlich um das "orchestrale" Bewusstsein und nicht um das seelenlose Befolgen von Regeln, obwohl klare Gebrauchsanweisungen heute sehr gefragt sind, weil man sich dadurch das Selbstdenken erspart. Ich will Ihnen nicht mit guten Argumenten einen Mantel aufdrängen, der vielleicht überaus schick und gerade sehr in Mode ist, aber letztlich weder stofflich noch farblich zu Ihrem Typ passt.
Die von mir erläuterten Erfolgsstrategien innerhalb eines Orchesters sollen vielmehr anhand beziehungsreicher Beispiele einen unmittelbaren Transfer zu Unternehmen auslösen. Denn die Metaphern aus dem orchestralen Mikrokosmos bieten die Chance, Konfliktfelder offen und schonungslos anzusprechen und gleichzeitig diverse Lösungsmöglichkeiten ohne erhobenen Zeigefinger auszuloten. Meine ausführliche Darstellung der orchestralen Welt soll Sie inspirieren, lustvoll Ihre Fantasie spielen zu lassen und Ihre eigenen Schlüsse im Hinblick auf eine bessere Unternehmenskultur zu ziehen.
Ein funktionierender Orchesterapparat ist ein Paradebeispiel für ein kreatives, offenes und schnell reagierendes Unternehmen, mit klar strukturierten und effizienten Führungs- und Konfliktlösungsstrategien. Ich bin überzeugt, dass Ihnen die so selbstverständlich wirkenden orchestralen Arbeitsabläufe - das tägliche Ringen um Perfektion im Dienste der Zuhörer - zahlreiche Einsichten und Inspirationen zu vertrauten Problemstellungen und Konfliktfeldern bieten können.
Inhalt
Vorwort zur Neuausgabe 9
Einführung 11
1. Das Orchester als Unternehmen 17
Erster Eindruck 18
Vom Solo zur Sinfonie 19
Klare Hierarchien 23
Raum für Selbstverantwortung 26
Führungskräfte sind stilprägend 29
Teamgröße 32
Alternative Strömungen 34
Unternehmerinteressen und Arbeitnehmerrechte 37
Recruiting 44
Gruppenzugehörigkeit und Milieus 47
Druck und Lampenfieber 52
2. Vom Ich- zum Wir-Gefühl 59
Ein Orchester als permanentes gruppendynamisches Seminar 59
Aktueller Ausbildungsstand versus langjährige Erfahrung 62
Abteilungsübergreifende Lösungen 65
Sympathien und Antipathien 69
Respekt ist wichtiger als Harmonie 74
Störungen des altbewährten Ablaufs als fruchtbarer Quell 75
Change muss Alltag sein 79
Bremser erkennen, motivierte Mitarbeiter fördern 82
Leistung oder Konsens 85
Mitspracherechte müssen Grenzen haben 88
3. Das überstrapazierte Teamideal 93
Gleichheit ist Illusion 93
Verantwortung motiviert 96
Teamarbeit als Wechselspiel der Kräfte 100
Einforderung von Teamfähigkeit als Drohgebärde 105
Interaktion verlangt Offenheit 107
Spannungen in einem Team belasten den ganzen Betrieb 112
Mut zu Neuem 113
4. Über Führungsideale und Führungsprozesse 117
Was macht der Dirigent? 117
Nur Stimmigkeit teilt sich mit 120
Wenn Abteilungen gegeneinander antreten 122
Widerstände 124
Voraussetzungen für Authentizität 126
Freiheiten zulassen 151
Es gibt nicht ein Erfolgsmodell 160
Wenn die Chemie nicht stimmt 169
Irrtümer zugeben 175
5. Innovation durch Inspiration 179
Zwischen Wollen und Entstehenlassen 179
Innovationshürden 187
Kontinuität durch Wandel 190
Emotionalität und Sachlichkeit 194