Beschreibung
Anschaulich und mit großem Erzähltalent schildert Anders Winroth die Lebenswelt der Wikinger. Zugleich zeichnet er ein umfassendes, farbiges Bild einer der stürmischsten Epochen des Abendlandes, in der die Räuber aus dem Norden das Gesicht Europas veränderten.Nach wie vor haben die Wikinger einen lebhaften Einfluss auf unsere Phantasie: Sie brandschatzten und trieben Sklavenhandel. Doch es gab auch friedliche Ansiedlungen, und sie entwickelten ein weit ausgreifendes Handelsnetzwerk. In ihren starken, schnellen Schiffen ließen sie ihre Heimatländer weit hinter sich zurück nicht nur um zu plündern, sondern auch aus reiner Entdeckerlust. Anders Winroth schreibt gegen die gängigen Mythen an, untersucht jeden wichtigen Aspekt dieses aufregenden Zeitalters und stellt so den Innovationsgeist und schieren Wagemut der Wikinger dar, ohne ihr destruktives Erbe zu beschönigen. Zugleich enthüllt er, wie sich Kunst, Literatur und religiöses Denken der Wikinger auf eine Art und Weise entwickelten, die in Europa einzigartig dasteht: eine ebenso unterhaltsame wie umfassende Darstellung einer Gesellschaft, die weitaus modernere Züge trägt, als man vermuten möchte.»Der Autor versteht es, äußerst plastisch die Wikingerzeit auferstehen zu lassen.«Damals »Das Buch von Anders Winroth ist so wichtig, weil es ein umfassendes objektives Verständnis der Wikinger-Kultur ermöglicht.«Gerhard Beckmann, Passauer Neue Presse »Anders Winroth hat ein anschauliches, populärwissenschaftliches Buch über ein Volk geschrieben, von dem wenig bekannt ist und über das viele Vorurteile verbreitet sind.«Rolf Hürzeler, kulturtipp
Autorenportrait
Anders Winroth studierte Geschichte an der Universität von Stockholm und wurde 1996 an der Columbia University promoviert. Von 1996 bis 1998 war er »Sir James Knott Research Fellow« an der University of Newcastleupon-Tyne. 2003 wurde er Fellow der McArthur-Foundation (Genius Grant). Seit 2004 lehrt er als Professor mittelalterliche Geschichte an der Yale University.
Leseprobe
Kapitel 1Einleitung Der Furor der Nordmänner Endlich ließ sich der Häuptling auf seinem erhabenen Sitz nieder. Die Krieger hatten in gespannter Erwartung auf den Bänken in der großen Halle ausgeharrt, gewärmt vom prasselnden Feuer und gelabt mit reichlichen Mengen Met. Die Dienerinnen des Häuptlings hatten im Herbst Wochen damit zugebracht, Honig und Wasser zu mischen und Fässer zu füllen mit dem Trank für die berühmte Yule-Feier, das alte skandinavische Mittwinterfest. Nun war der Häuptling eingetroffen angetan mit seinen besten Gewändern , und verlangte zu wissen, warum man seinen berühmten Kriegern nur ein so gewöhnliches Getränk kredenzt hatte. Verdienten sie denn nichts Besseres nach all dem, was sie im Frankenland geleistet hatten? Hatten sie nicht Fässer voll des besten Weins aus dem reich bestückten Keller jenes Klosters im letzten Sommer mitgenommen und ihre Beute mit ihrem Blut teuer bezahlt? Das Erscheinen des Krugs, seine perfekte Ebenmäßigkeit, die im Vergleich mit den gewohnten plump-irdenen Gefäßen so ganz anders wirkte, ließ die ungehobelten Krieger in der riesigen Halle verstummen. Mehrere horizontale Reihen aus Zinnfolie und dazwischen Gruppen von Rhomben schmückten den Krug, ein wundervolles Gefäß für ein exotisches Getränk. Der Häuptling wurde als Erster bedient, er nahm einen Becher mit kunstvollem Dekor aus blauem Glas in zarten Streifen entgegen; danach wurde dem Mann auf dem Ehrenplatz ein ebensolches Glas überreicht. Die anderen Männer tranken aus Hörnern oder einfachen Bechern, jetzt aber tranken alle Wein statt Met, um ihrer aller Tapferkeit und ihren Erfolg bei ihren Raubzügen im Sommer zu feiern. Einige der Krieger erkannten die Glasgefäße wieder: Der Häuptling hatte sie gekauft, als die Kriegerbande auf dem Heimweg der Stadt Hedeby einen Besuch abstattete. Man munkelte, die blau schimmernden Gläser stammten aus einem weit entfernten Königreich namens Ägypten; und der Häuptling hätte für das, was er nach zähen Verhandlungen dafür bezahlte, ein gutes Langschiff erwerben können. Einige der Krieger, gewöhnt an schlichtere Getränke, kannten den Geschmack von Wein noch nicht. Welch ein herrlicher Anführer, der solchen Luxus so großzügig zu teilen verstand! Und er sah ja auch ganz wie ein Führer aus. Auf den Umhang, den er trug, waren Leoparden und silberne Pailletten gestickt, und der Stoff war üppig mit Fuchspelz verbrämt. Auf dem Kopf trug der Häuptling eine seidene Mütze. Ein mit Eiderdaunen gefülltes Kissen in einem herrlich bestickten Überzug, auf dem eine Prozession von Menschen, Pferden und Wagen zu sehen war, polsterte seinen Sitz, und neben ihm lehnte eine Zeremonialaxt: Sie war dekoriert mit der aus Silberdraht gefertigten Darstellung eines Phantasietiers. Wahrhaftig ein echter Häuptling! Woher nahm er all diese herrlichen Dinge? Nur wenige Krieger waren vergleichbaren Luxusgütern je so nahe gekommen. Nie hatten sie so dunkel-schimmernde Füchse gesehen, nie waren sie mit Stoff in Berührung gekommen, der so glänzte und leuchtete. Nicht jeder in der Halle war im letzten Sommer mit dem Häuptling ausgefahren, um in Frankenland Beute zu machen; zur Feier waren auch viele Neulinge erschienen. Man konnte sie prahlen hören: Wie sie selbst im nächsten Sommer mit diesem Häuptling ziehen würden, um ihre Schwerter zu röten mit dem Blut der Franken und der Englischen und vielleicht sogar, warum nicht, mit dem der Mauren in Spanien? Und sie würden unerhörte Reichtümer anhäufen. Im vergangenen Sommer hatten sie nicht so viel Glück gehabt. Von den drei Schiffen, die unter dem Befehl eines anderen Häuptlings ausgefahren waren, kam nur eines zurück, und dieses kam ohne den Führer, der, so hieß es, gefallen war, als sich die Friesen völlig überraschend zur Wehr gesetzt hatten. Keiner wusste genau, was passiert war, denn diejenigen, die zurückgekommen waren, sprachen ungern darüber. Nun war es Zeit für das Hereinbringen der Speisen, doch als Erstes mussten die Götter ihren Anteil bekommen. Der Häuptling schnitt dem Opfertier die Kehle durch und ließ das Blut auf den Boden fließen. Auf die Lache goss er etwas Wein. Außerdem hielt er ein kleines Stück Goldfolie hoch, so dass jeder es bewundern konnte. Diejenigen, die in der Nähe saßen, konnten das eingeprägte Bild eines sich umarmenden Paares erkennen. Der Häuptling befestigte die Folie an einem der Pfosten, die das Dach trugen. Nicht alle seine Krieger wussten so ganz genau, was es mit diesem Ritual auf sich hatte, aber alle waren sicher, dass ein Segen damit verbunden war. Das geopferte Lamm wurde hinausgetragen, um gebraten zu werden, und das übrige Essen wurde hereingebracht: große Stücke gebratenes Fleisch, mehrere Kessel gekochter Fisch, und Zuckerwerk. Die Krieger langten bei all dem, was angeboten wurde, kräftig und zufrieden zu. Es war natürlich völlig unnötig, zu den Festen dieses berühmten Häuptlings sein Essen selbst mitzubringen! Die Bäuche gefüllt mit einem wunderbaren Festmahl waren nun alle geruhsam damit beschäftigt, Nüsse von ihren harten Schalen zu befreien, um die süßen Kerne zum Dessert zu genießen. Der Häuptling und die Gäste in seiner unmittelbaren Nähe hatten größere Nüsse, die einfacher zu öffnen waren, denn ihre Schalen waren weicher und dünner. Ob wohl auch der Inhalt wohlschmeckender war? Nur wenige in der Halle hatten je von diesen ausländischen »welschen« Nüssen, den »Walnüssen«, gekostet. Einige konnten sich daran erinnern, wie eine einzige Walnuss in das prächtige Grab des vorigen großen Häuptlings gelegt worden war. Dieses Begräbnis war ein Ereignis, das man nicht so leicht vergaß: Der tote Mann hatte ein riesiges, prachtvolles Schiff mit erlesenen Holzschnitzereien bekommen, das ihn ins Jenseits befördern sollte. Die Leute hatte beeindruckt, dass sein Sohn bereitwillig ein so gewaltiges Schiff hergab, obwohl böse Zungen leise behaupteten, das Schiff sei nicht sonderlich seetauglich, zweimal gekentert, und der Bruder des Häuptlings bei dem Unfall ertrunken. Der Sohn des alten Häuptlings hatte außerdem eine unerhörte Anzahl Pferde auf dem Vorschiff geopfert. Man sprach noch lange von dem Blutmeer auf dem Deck des Begräbnisschiffs, bevor Erde darüber gehäuft wurde, die einen Hügel bildete, aus dem als Denkmal der Mast noch herausragte. In der Mitte der Halle erhob sich der Skalde, und die Krieger, mittlerweile recht angeheitert, wurden zwar nicht ganz still, doch immerhin kehrte genug Ruhe ein, dass die meisten im Raum ihn hören konnten. Der Skalde wandte sich an den Häuptling und deklamierte: »Hört meiner Dichtung zu, Zerstörer des dunklen Blau, ich weiß zu komponieren.« Das war ein guter Skalde, sogar ein sehr guter; man konnte an seinem Akzent hören, dass er ein Isländer war, und die Isländer waren, wie jeder wusste, die besten Skalden. Die Krieger genossen den Wohlklang der Verse, die er rezitierte: den Rhythmus, die Alliteration, den Endreim, den unreinen Reim, die Assonanzen allerdings verstanden sie nicht jede Strophe so ganz genau. Die Wortstellung war derart unnatürlich, das Gewebe des Reims hochkomplex, und die dichterischen Umschreibungen sehr weit hergeholt. Dunkles Blau ... bedeutete was genau? Wunden-Schwäne? Mahlzeiten von Riesen? Doch feierten die Verse ganz eindeutig die Erfolge des Wikinger-Abenteuers im letzten Sommer. Die Krieger erkannten einzelne Wörter: Franken, Feuer, Gold, Pferde, ein Rabe. Und plötzlich platzte ein Krieger heraus: »Wir haben kräftig den Raben gefüttert in Frankenland!«, denn ihm war auf einmal aufgegangen, was die Lösung eines Teils des Rätsels in einer der Strophen war. Jeder applaudierte, und der Dichter musste einen Augenblick lang verstummen. In der altnordischen Dichtung bedeutete den (poetisch auch als Wunden-Schwan bezeichneten) Raben füttern: den Feind töten, also eine Mahlzeit bereiten für Tiere, die sich von Aas ernähren. Es war für die betrunkenen Krieger schwierig, selbst solche Wendungen zu entschlüsseln, denn der Isländer glänzte nicht nur mit weit hergeholten Ausdrücken, sondern auch mit der Verwendung unnatürlicher Wortstellungen und seltener Redewendungen. Die Eingangszeile war noch ganz einfach gewesen, denn der Skalde begann strategisch geschickt mit leicht verstehbaren Worten. Und über das Ende konnte es auch keine Zweifel geben, denn seine Gesten und sein Tonfall machten es überdeutlich, dass er am Schluss zum Ruhm und Preis des Häuptlings ansetzte. Der Häuptling belohnte den Skalden mit einem goldenen Armreif, den er von seinem eigenen Arm ablöste, und er überschüttete die erwartungsvollen Männer für ihre Tapferkeit und Treue mit Armringen aus Gold und Silber, Schwertern mit reich dekorierten Knäufen, mit Kleidung, Helmen, Kettenhemden und Schilden. Selbst diejenigen, die sich erst vor Kurzem dem Häuptling angeschlossen hatten, empfingen Beweise seiner Freundschaft, überwiegend Waffen, je nach Ansehen und ihrer Kämpferqualität. Als der Abend zu Ende ging, waren alle glücklich. Sie hatten genug und übergenug gegessen und getrunken, hatten der Deklamation des Skladen, von der sie wussten, dass es große Dichtung war, gelauscht und ihn auch halb verstanden, und sie konnten mit ihren neuen Armringen oder Schwertern prunken, die jedermann zu verstehen gaben, dass sie die geschätzten Freunde dieses grandiosen Häuptlings waren. Während des Winters verbrachten viele Männer Monate damit, ein neues, noch eindrucksvolleres Schiff für die Überfallsaison des nächsten Sommers zu bauen. Sklavenfrauen und Dienerinnen spannen und woben ein großes wollenes Segel, eine Arbeit von Tausenden und Tausenden von Stunden, aber die Arbeit lohnte sich. Das neue Schiff würde nicht nur schneller vorankommen, die Größe des Segels würde auch dafür sorgen, dass der Ruf des Häuptlings sich noch weiter ausbreitete und noch mehr Männer dazu verlockte, sich freiwillig auf die Ruderbänke zu begeben. Natürlich konnte sich der Häuptling nach all dem Silber und Gold, das er im vergangenen Sommer zusammengerafft hatte, mit Leichtigkeit all diese Ausgaben leisten: Einiges hatte er schlicht aus Klöstern, Kirchen und Privathäusern genommen; einiges hatte man ihm gegeben als Bezahlung für das Versprechen, die unglückseligen Europäer in Ruhe zu lassen; einiges empfing er als seine Bezahlung für die Männer und Frauen, die er gefangen genommen und als Sklaven verkauft hatte. Es lief gut für diesen Häuptling, der einer Gruppe ergebener Krieger vorstand. Alle waren sie ganz versessen darauf, auszuziehen und treu für ihren Häuptling zu kämpfen wenn es sein musste, auch für ihn zu sterben. Alle freuten sich auf die nächsten Raubzüge durch Europa, sobald der Frühling anbrach. Alles fing mit den großen Festgelagen in den Hallen der norwegischen Häuptlinge an. Von hier gingen die Raubzüge der Wikinger aus: Sie wurzelten in den Treuebeziehungen und Freundschaften, die beim Essen, Trinken und Schenken entstanden. Und in den Hallen ging auch alles zu Ende mit der Verteilung der Beute als Geschenk, was den Grund legte für einen neuen Kreislauf der Gewalt im folgenden Jahr. Die Männer liebten ihren großzügigen Häuptling, der Essen und Trinken bereitstellte, Unterhaltung, Juwelen und Waffen. Gerne gaben sie ihm dafür ihre Treue und ihre kriegerische Kühnheit. Obwohl die Demütigung der mächtigen Königreiche Europas, die Plünderung reicher klösterlicher Schatzkammern und die großen Schlachten zwischen Wikingern und Europäern die spektakulärsten und bekanntesten Ereignisse des Wikinger-Zeitalters darstellen, spielte sich die wahre Geschichte jener Zeit in den großen Hallen des Nordens ab. Sie waren die Brennpunkte der frühmittelalterlichen skandinavischen Geographie der Macht. Jede Halle war das Zentrum der Ehre, des Wertes, des Rufs ihres Häuptlings, der Fokus seiner Welt, der Ort seiner Macht. Hrothgar, der legendäre König der Dänen, residierte in Heorot, einer besonders großartigen Halle jedenfalls in der Vorstellung des im Zeitalter der Wikinger wirkenden Beowulf-Dichters. Als die schwedischen Krieger des Titelhelden Beowulf sich in freundschaftlicher Absicht Heorot nähern, sind sie unendlich beeindruckt von dieser riesigen, grandiosen, in der ganzen Welt berühmten Halle. Hrothgar hatte sie bauen lassen, auf dass sein Ruhm wachsen und auf immer groß bleiben möge. Der Dichter betont die vortreffliche Großartigkeit von Heorot, die Hrothgars Prahlen Legitimität verschafft und eine Grundlage seiner Macht bildet. Genau das wurde mit dem Bau einer Halle bezweckt, eines Bauwerks, das beeindruckte, einem weithin gerühmten Ort, zu dem Krieger strömten, um an der Gastfreundschaft und Freigebigkeit des Häuptlings und Erbauers der Halle teilzuhaben. In ganz Nordeuropa ließen die Häuptlinge solche Hallen bauen. Archäologen haben die Überreste von Dutzenden gefunden, was uns Zeugnis davon gibt, wie viele Warlords im frühmittelalterlichen Skandinavien nach Macht strebten. Jeder Häuptling hielt seine Halle in hohen Ehren, er ließ sie so groß und hoch wie nur irgend möglich bauen und ließ sie schmücken vielleicht nicht immer mit Gold wie das erdichtete Heorot, aber doch zumindest mit bemalten Schnitzereien, Waffen und anderem Zierrat. Die Hallen skandinavischer Häuptlinge sind die größten Bauwerke, die wir aus dem frühmittelalterlichen Nordeuropa kennen. Mit Ausmaßen von 48,5 mal 11,5 Metern war die Halle von Lejre auf der dänischen Insel Seeland von allen die größte. Abgesehen von einigen wenigen Holzüberresten am Boden einiger Pfostenlöcher ist von dem Gebäude, dem ganzen Stolz seines Häuptlings, nichts erhalten, abgesehen nur von dem Abdruck des Fundaments in der dänischen Erde. Doch reicht dieser Abdruck aus, um die Dimensionen der Halle und ihre massive Bauweise zu erschließen: Kräftige Holzbalken stützten das Dach, die Wände waren 15 cm dick und bestanden aus Brettern aus alten Bäumen. Eine große Halle musste ein weiträumiges, eindrucksvolles Bauwerk sein. Archäologen kamen zu dem Schluss, dass das Dach der Halle von Lejre mindestens zehn Meter Höhe erreichte. Es wurde gestützt von zwei Säulenreihen im Inneren und von Säulen in den Wänden, die verstärkt wurden von 22 Brettern auf jeder Seite im Abstand von 1,5 Metern. In der Mitte des Gebäudes waren zwei Dachpfostengruppen ausgelassen, wodurch ein großer Innenraum von rund 9,5 Quadratmetern entstand, auf dessen einer Seite sich die zentrale Feuerstelle befand. Dieser offene Raum war entscheidend für die politische Macht des Häuptlings von Lejre. Sein thronartiger Stuhl der hohe Sitz stand hier, er war reich mit Holzschnitzereien verziert und sehr wahrscheinlich auch bemalt. Die skandinavischen Kunsthandwerker im Zeitalter der Wikinger waren Meister der Schnitzkunst. Im norwegischen Oseberg wurden in einem Grabhügel Möbelstücke gefunden, die unglaublich gekonnt gearbeitete Drachen mit großen, stilisierten Augen enthielten; die ineinandergreifenden Beine der Tiere bilden ein fein ausgearbeitetes Flechtmuster. Um den Häuptling herum konnten seine Krieger auf Bänken sitzen der Dichter des Beowulf bezeichnete sie als »Met-Bänke« und die Gastfreundschaft ihres Anführers genießen, was sicher eine Menge Met bedeutete, aber auch erlesenere Getränke sowie Speisen und Unterhaltung. Hier fanden sich die Überfallbanden der Wikinger erstmals als Gemeinschaften von Kriegern unter der Führung eines Häuptlings ein. Bande der Treue, der Kameradschaft und der Freundschaft wurden hier geknüpft, Blutsbrüderschaften begründet und Solidaritätseide geschworen. In der Methalle kamen Scharen von skandinavischen Kriegern zusammen, tranken und feierten gemeinsam und ließen es sich gutgehen. Sie waren tief beeindruckt von der Großzügigkeit und dem Reichtum des Häuptlings. Wie es bei Trinkgelagen unter Männern häufig geschieht, stand am Ende eine Verstärkung des Gemeinschaftsgefühls und der Treue zu ihrem Anführer. So wie die Halle des Wikinger-Häuptlings der Ausgangspunkt für die Überfälle der Wikinger auf Europa war, so nehmen wir die Halle als Ausgangspunkt unserer Erkundung der Geschichte des Wikinger-Zeitalters. Hier kommen sämtliche Geschichtsstränge zusammen Politik, militärisches Können, Handel, Ackerbau, Forschung, Religion, Kunst, Literatur und vieles mehr , und wir werden diesen Strängen bis in die frühmittelalterliche Welt hinein folgen, was uns an exotische Orte wie Choresmien in Zentralasien und Neufundland in Amerika, nach Sevilla in Südwestspanien und ans Weiße Meer am nördlichen Rand Russlands verschlagen wird. Denn die Wikinger von den Europäern als ein unbeschreibliches Übel vom Ende der Welt in Erfüllung biblischer Prophezeiungen empfunden waren in Wirklichkeit tief in die Struktur der frühmittelalterlichen europäischen Gesellschaft eingebettet. Nach wie vor faszinieren uns die Wikinger und die Geschichten ihrer heldenhaften Fahrten. Wilde Barbaren mit Hörnerhelmen, funkelnden Schwertern und scharfen Äxten, die über Lindisfarne, Hamburg, Paris, Sevilla, Nantes und viele andere Orte herfallen, um abzuschlachten, zu plündern, zu vergewaltigen, zu vernichten, Königreiche zu stürzen und Europa zu verheeren: Die Wikinger regen unsere Phantasie an. In unserer Vorstellung töten und verstümmeln sie ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht oder gesellschaftlichen Status. Wir sehen Supermänner in ihnen, übersteigert brutale Kämpfer, gewalttätig um der Gewalt willen, Anhänger merkwürdiger heidnischer Religionen, die unter grausamsten Umständen blutige Opfer forderten. Da wir als Gesellschaft nach wie vor ein belastetes und komplexes Verhältnis zur Gewalt haben, fesseln uns die Wikinger und stoßen uns zugleich ab. Einerseits empfinden wir Mitleid mit den hilflosen Opfern und wollen von all der sinnlosen Schlachterei am liebsten nichts wissen, andererseits können wir nicht umhin, ihre Stärke, ihren Mut und ihre Männlichkeit zu bewundern. Doch die Wikinger stehen auch für ein ganz unzweideutig positives Bild: Wir stellen sie uns gern als jugendliche, mutige Abenteurer vor, die sich der Erkundung ferner Länder verschrieben haben. Die Wikinger sind für uns begnadete, furchtlose Entdecker, die fünfhundert Jahre vor Kolumbus den Atlantik überquerten. Auf der anderen Seite Europas befuhren sie die Flüsse Russlands, entdeckten Handelsrouten über Land nach Zentralasien und ins Arabische Kalifat und stellten über die Seidenstraße eine Verbindung zu China her. Die neuen Handelsrouten trugen dazu bei, dass sie als Händler und Kaufleute ein Vermögen machten. Trotz ihres Hangs zur Gewalt bleibt der Ruf der Wikinger überwiegend positiv, und ihr Bild wird zu Werbezwecken und als Metapher in immer abenteuerlicheren Kontexten ständig verwendet. Mit den Wikingern zusammenhängende Markenbezeichnungen werben für Heringe, Kabeljau, Flusskreuzfahrten, Computerspiele, Kücheneinrichtungen, Heimwerkergeräte und die NFL-Fußballmannschaft von Minnesota. Ein weitverbreitetes Datenübertragungssystem trägt den Namen eines berühmten Wikingerkönigs, und viele Bands vor allem offenbar solche, die der einen oder anderen Heavy-Metal-Richtung angehören leiten ihren Namen von nordischer Kultur und Überlieferung ab. Spielfilme, Fernsehserien und Dokumentationen über Wikinger ziehen gewaltige Zuschauermengen an, und College-Kurse über Themen, die mit Wikingern zusammenhängen, stoßen bei den Studenten meist auf ein unvergleichliches Interesse. Wikinger faszinieren, und sie verkaufen sich gut. Sie evozieren eine attraktive Mischung aus Männlichkeit, Stärke, Abenteuer und nordischer Herzlichkeit und Bodenständigkeit. Aber was wissen wir über die wirklichen Wikinger? Wissen wir, wer sie waren, was sie taten, wofür sie standen? Die moderne kulturelle Phantasie erfasst lediglich einige wenige Aspekte der Wikinger, und das, was wir zu wissen meinen, ist verzerrt, übertrieben oder einfach ein Missverständnis. So haben beispielsweise ihre wie Ikonen bewunderten gehörnten Helme nie existiert, jedenfalls nicht vor der Premiere von Wagners Ring des Nibelungen im Jahr 1876. Während wir also lediglich Mythen wiederkäuen, werden einige der mitreißendsten Geschichten über die Wikinger selten oder nie erzählt. Die Wikinger waren gewalttätig, extrem gewalttätig. Sie jagten Sklaven, sie töteten, verstümmelten und plünderten in weiten Gegenden Europas, auch in Skandinavien selbst, und ihre Blutrünstigkeit lässt sich überhaupt nicht bestreiten. Allerdings müssen wir auch den Kontext und den Grund für ihr Handeln sehen. Hirnlose Killermaschinen waren sie sicher nicht. Das Mittelalter war insgesamt eine gewalttätige Zeit, was vor allem für die staatenlosen Gesellschaften der frühen Periode gilt. Gewalt spielte eine entscheidende Rolle im politischen Leben jener Zeit, selbst für Herrscher wie Kaiser Karl den Großen und die frühen englischen Könige, die als zivilisiert galten, aber weitgehend in demselben von Gewalt grundierten Kontext, womöglich sogar in noch größerem Ausmaß als die Wikinger, agierten. Doch obwohl Gewalt und Krieg eine so dominante Rolle spielten, war das Zeitalter der Wikinger auch eine Phase großer kultureller, religiöser und politischer Leistungen. Intensive skandinavische Kontakte mit Europa ließen nicht nur den »Zorn der Nordmänner« auf die Häupter ihrer europäischen Opfer herniederdonnern, sondern lösten auch ein breites Einströmen europäischer und politischer Einflüsse auf Skandinavien aus. Die Menschen im Norden Europas reagierten darauf auf vielfältig-kreative Weise. Die Literatur erblühte, vor allem eine Dichtkunst von kaum überbietbarer Komplexität. Während des Zeitalters der Wikinger kam es in Skandinavien außerdem zu einer Blüte ornamentaler Kunst. Vieles ging zurück auf Künstler und Handwerker in reichen Handelsstädten der Region oder an den Höfen ehrgeiziger Herrscher. Einige Skandinavier jener Zeit bekehrten sich zu der neuen, modernen Religion, dem Christentum; andere setzten sich für eine Rückkehr zur alten heidnischen Religion ein. Auf Ost- und Nordsee nahm der Handelsverkehr beeindruckend zu, denn durch das Erstarken des arabischen Kalifats entstanden auf dem eurasischen Kontinent neue ökonomische Strukturen. Diese überwiegend von Skandinaviern und anderen Nordeuropäern gepflegten Handels- und Austauschprozesse ließen in die baltischen Regionen nicht nur ungeahnte Reichtümer darunter gewaltige Mengen arabischer Silbermünzen, die letztlich aus den reichen Silberminen Afghanistans stammten , sondern auch alle möglichen exotischen Handelsgüter strömen. Die Häuptlinge beeindruckten ihre Untertanen damit, dass sie Rheinwein aus ägyptischen Gläsern tranken, dass sie für ihre Schwerter den härtesten Stahl der Welt aus Zentralasien und Indien bezogen, dass sie chinesische Seide und indische Edelsteine trugen, und dass sie diejenigen, die sie zu ihren Freunden zählten, an all dem Reichtum Anteil haben ließen. Die Raubzüge der Wikinger waren eine weitere Quelle für ihren Reichtum. Mit ihnen kamen nicht nur westliche Münzen in den Norden in Skandinavien wurden mehr angelsächsische Pennys gefunden als auf den Britischen Inseln , sondern auch alle möglichen anderen Kostbarkeiten: Juwelen, Seide, Gold- und Silberschätze aus den Kirchentruhen Westeuropas. Der Reichtum, den die Skandinavier ansammelten, wurde effizient für die Politik der Region eingesetzt; Häuptlinge, die sich solche Reichtümer angeeignet hatten, schenkten sie weiter, um sich die Freundschaft und Treue derer zu erwerben und zu sichern, die diese Geschenke dankbar entgegennahmen. Auf ähnliche Weise benutzte man Heiratsbündnisse, Blutsbruderschaften und Patenschaften, um die moralisch verpflichtenden Treuebindungen zwischen den Kriegern und ihren Führern zu schaffen und zu stärken. Jeder Häuptling war erpicht darauf, sich das beste, mächtigste Privatheer aufzubauen. Daher gab es unter den Häuptlingen einen intensiven Wettstreit, wer der eindrucksvollste, großzügigste, eloquenteste und wer von ihnen am besten vernetzt war und wer die reichsten Geschenke machen konnte. Ein solcher Wettstreit hatte auch offenen und brutalen Krieg unter rivalisierenden Häuptlingen zur Folge, und ständig verschob sich das Kaleidoskop der politischen Konstellationen. Einige Häuptlinge scheiterten, einige wichen mit ihren Ambitionen in andere Regionen aus, und andere setzten sich durch und häuften immer mehr Macht an, bis sich um das Jahr 1000 aus den Turbulenzen die drei mittelalterlichen Königreiche Skandinaviens herauskristallisierten. Einige Skandinavier verließen ihre nördlichen Siedlungsgebiete und zogen nach Russland, Frankreich, England, Schottland und Irland, wobei sie dort nicht nur ihre ehrgeizigen Ziele weiter verfolgten, sondern auch ihre Sprache und ihre Gebräuche mitnahmen. Dadurch veränderten sie fundamental die Orte, an denen sie sich niederließen. Andere Skandinavier zogen nach Island, Grönland und wenn auch nur für kurze Zeit nach Neufundland und trugen so die nordische Kultur über den Nordatlantik. Transatlantische Migrationsbewegungen, Fernhandel und auch die Raubzüge der Wikinger wären nicht möglich gewesen ohne ihre robusten, schnellen und extrem seetüchtigen Schiffe. Unmittelbar vor dem Beginn der Wikinger-Ära hatten die Skandinavier sich die Fähigkeit angeeignet, diese Schiffe zu bauen und mit effizienten Segeln auszustatten. Die Nordmänner waren sich durchaus darüber im Klaren, wie wichtig ihre Schiffe waren, und sie schufen um sie herum einfallsreiche Ideologien und phantastische Mythologien. Das Zeitalter der Wikinger widmet sich jedem wichtigen Aspekt der Leistungen und Taten der Wikinger und Skandinavier vom Ende des 8. bis zum 11. Jahrhundert. Damals erfuhren gewöhnliche Europäer zum ersten Mal mehr als verschwommene Allgemeinheiten über ihre Nachbarn im Norden. Sehr bald mussten sie erkennen, dass sie allen Grund hatten, sich vor diesen Nachbarn zu fürchten, denn die Skandinavier entdeckten, wie schnell man reich werden konnte, indem man entlang der Küsten und Flüsse auf dem Kontinent Raubzüge unternahm. Die Langschiffe der Wikinger boten einen unschätzbaren Vorteil: Man konnte mit ihnen die Opfer überraschen, denn diese konnten vor dem bevorstehenden Angriff nicht gewarnt werden. Die Völker Europas waren in dieser gewalttätigen Epoche durchaus vertraut mit willkürlicher Gewalt, wenn jedoch der Feind über Land kam, dann verbreitete sich die Nachricht von seinem Näherrücken rasch. Die Wikinger hatten außerdem eine Vorliebe für Angriffe auf Klöster und Kirchen: Das waren weiche, unverteidigte Ziele, die außerdem von christlichen Truppen meistens verschont blieben. Mönche und Kleriker hatten nahezu ein Monopol auf die frühmittelalterliche Schriftkultur, weswegen die erhaltenen Chroniken und anderen literarischen Zeugnisse ihre Perspektive überliefern, die nachvollziehbarerweise eine gegenüber den Angreifern extrem feindselige war. Die Wikinger erwarben sich so den unvorteilhaften Ruf, »ein außerordentlich widerwärtiges Volk« und »eine schmutzige Rasse« zu sein. Ich möchte hingegen zeigen, dass die von ihnen ausgeübte Gewalt, sieht man sie im größeren historischen Rahmen, nicht schlimmer war als die anderer Vertreter dieser wilden Zeit, in der Helden wie Karl der Große (gest. 814) in sehr viel breiterem Ausmaß töteten und plünderten als die Angreifer aus dem Norden. Im Zeitalter der Wikinger ging Skandinavien einen deutlich anderen Weg als das übrige Europa. Bildende Kunst, Literatur und Religion entwickelten sich auf ganz eigene Weise, und die Skandinavier eröffneten Handelswege, die zuvor noch nie oder jedenfalls nicht in dieser Intensität benutzt worden waren. Viele zogen fort, um in so unterschiedlichen Regionen wie Grönland und dem russischen Binnenland, Ostengland und Nordfrankreich zu siedeln. Insgesamt war die Wikingerzeit eine dynamische, erfindungsreiche Epoche, in der Skandinavien vor Energie strotzte. Viele nordische Männer und Frauen ergriffen bereitwillig die Möglichkeiten, die sich ihnen seit der Erfindung des Langschiffs eröffneten. Die Königreiche Europas machten diverse Perioden von Chaos und Schwäche durch, wie etwa den französischen Bürgerkrieg der Jahre 840843 oder die Revolte von Edmund, dem Sohn des englischen Königs, im Jahr 1015, was die Übergriffe der Skandinavier entschieden erleichterte. Indem sie diese Gelegenheiten nutzten, stießen die Skandinavier politischen und sozialen Wandel an, der sie auf lange Sicht in die Lage versetzte, in den Mainstream der europäischen Geschichte einzutreten, wobei das allerdings auf Kosten einiger Aspekte ging, die ihre Kultur unverwechselbar machte. Ich stütze mich in Die Wikinger. Das Zeitalter des Nordens auf zahlreiche zeitgenössische Schrift-, Bild- und Materialquellen, außerdem auf die umfangreichen Forschungsergebnisse aus Geschichts- und Literaturwissenschaft, Archäologie und Nachbardisziplinen, um aus dem Kontext einer breiten Perspektive etwas von der Erregung und dem Innovationspotential jener schwierigen Periode einzufangen, ohne ihr destruktives Erbe zu beschönigen. Das Buch wurzelt in konkreten, lebendigen Geschichten über die Männer und Frauen, die bei der Entstehung einer der ungewöhnlichsten und interessantesten Geschichtsepochen mitwirkten: dem Zeitalter der Wikinger. Das Wort »Wikinger« kommt in zeitgenössischen Quellen kaum einmal vor, während es in der Neuzeit zu einer ebenso allgegenwärtigen wie unscharfen Bezeichnung geworden ist. Der ursprüngliche Sinn des Ausdrucks ist unklar; es gibt zahlreiche Spekulationen über die etymologische Herkunft. In diesem Buch reserviere ich den Ausdruck »Wikinger« für jene Nordmänner, die im frühen Mittelalter in Europa kämpften und plünderten, in Übereinstimmung mit dem Gebrauch des Wortes in mittelalterlichen Texten. Ansonsten bezeichne ich die Einwohner Skandinaviens als Skandinavier. Die von ihnen gesprochene Sprache ist das Altnordische, ich verwende daher teilweise auch den Ausdruck »Nordmänner«. Die großen Hallen Skandinaviens waren monumentale, eindrucksvolle Gebäude mit offenen Innenräumen, in denen Feste gefeiert und Freundschaften zelebriert wurden. Hier wurden von den Wikingerhäuptlingen und ihren Kriegern die Pläne für ihre Raubzüge geschmiedet. Diese sorgfältige Computerrekonstruktion der riesigen Wikingerhalle im dänischen Lejre beruht auf den archäologischen Befunden vor Ort. Mit freundlicher Genehmigung von Nicolai Garhøj Larsen, EyeCadcher Media, und dem Roskilde-Museum.
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