Beschreibung
Packend und spannend: ein literarisches Meisterwerk von großer emotionaler Intensität John Burnside ist eine Entdeckung. In seiner schottischen Heimat gehört er neben A.L. Kennedy zu den renommiertesten Gegenwartsautoren vielfach ausgezeichnet und sowohl als Lyriker wie auch als Erzähler erfolgreich. Sein erstes auf Deutsch erscheinendes Buch ist ein packender Roman um Schuld und Obsession, Einsamkeit und die archaische Kraft des Bösen. Michael Gardiner lebt mit seiner Frau zurückgezogen am Rande des schottischen Küstenortes Coldhaven. Bis er eines Morgens in der Lokalzeitung liest, dass sich seine Jugendliebe Moira umgebracht und ihre beiden kleinen Söhne mit in den Tod genommen hat; nur ihre halbwüchsige Tochter Hazel ließ sie am Leben. Schlagartig sind bei Michael die Erinnerungen wieder da: an seine Eltern, beide Künstler, die auf der Suche nach Ruhe nach Coldhaven zogen und von den Einwohnern jahrelang tyrannisiert wurden; an Moiras Bruder Malcom, der ihn als Kind bis aufs Blut quälte; an Mrs. Collings, selber eine Außenseiterin in Coldhaven, die ihm damals riet, sich nicht alles gefallen zu lassen. Michael befolgte ihren Rat und hütet seither ein düsteres Geheimnis. Doch Moiras Tod bringt nicht nur die Schatten der Vergangenheit zurück. Michael verfällt auch der Idee, Hazel sei seine Tochter. Er beginnt sie zu beobachten, lernt sie kennen und überredet sie schließlich zur Flucht. Für beide ist dies die Chance, einer Welt zu entfliehen, die sie gefangen hält. Und die Chance auf einen Neuanfang.
Leseprobe
In Coldhaven, einem kleinen Fischernest an der Ostküste Schottlands, wachten die Menschen vor langer Zeit an einem düsteren Morgen Mitte Dezember auf und sahen nicht nur, dass ihre Häuser tief und traumverloren unter einer so dicken Decke Schnee begraben lagen, wie sie nur ein- oder zweimal in jeder Generation ausgebreitet wird, sondern dass darüber hinaus, während sie geschlafen hatten, etwas Seltsames geschehen war, etwas, was sie sich nur mit Geschichten und Gerüchten zu erklären wussten, die sie allerdings, da sie ein braves und gottesfürchtiges Volk waren, höchst ungern weitererzählten, Geschichten, in denen der Teufel vorkam oder ein Gespenst, Geschichten, die widerstrebend eine verborgene Macht in der Welt anerkannten, deren Vorhandensein sie die meiste Zeit lieber ignorierten. Coldhaven sah in jenen Tagen kaum anders aus als heute, ein Gewirr aus Häusern, Gärten und mit Unrat übersäten Bootsliegeplätzen, das sich in engen, regenfarbenen Straßen und schmalen Kopfsteinpflastergassen zum Meer hinabzog. Die Menschen damals waren die Vorfahren jener Nachbarn, mit denen ich seit nunmehr über dreißig Jahren zusammenlebe: ein raues Seefahrervolk mit sonderbarem Aberglauben, ureigener Logik und Erinnerungen an Sandbänke, Gezeiten und die Tücken der See; doch auch wenn ihre Kindeskinder den nahen Bezug zum Meer verloren haben, glaube ich, diese Menschen zu kennen, wenn auch nur ein wenig und wie aus großer Entfernung. Es mag reine Phantasie sein, so selten diese auch vorkommt, doch bilde ich mir ein, ich könnte in ihren lethargischen Abkömmlingen die Geister jener alten Seefahrer ausmachen, die allzu viele Male gezwungen waren, sich durch dichten Nebel oder gnadenlosen Sturm den Weg nach Hause zu suchen, oder die jener Frauen, deren Blick am Horizont nicht innehielt, sondern weiterwanderte zu den Riffen und Untiefen, die sie nur von Karten und Wettervorhersagen kannten, was sie zu Seherinnen machte, zu Orakeln und Harpyien. Es muss eine grauenhafte Last für sie gewesen sein, eine schreckliche, wenn auch alltägliche Fertigkeit, diese für wenige kritische Augenblicke entwickelte und auf ein ganzes Leben ausgeweitete, zu starren Mienen der Voraussicht und Vorahnung verzerrte und entstellte Sehweise. Einen solchen Blick habe ich sogar in den Augen der Postbotin erkannt, eine Gabe, die sie nicht braucht, die sie aber auch nicht ablegen kann. Letzte flüchtige Spuren davon fand ich selbst in den Augen von Schulmädchen und einigen jungen Frauen, die, während sie ihrer Arbeit nachgingen, auf die Katastrophe warteten. Jene, die am lang vergangenen Wintermorgen als Erste aus den Betten waren, die Bäcker und Schiffsausrüster, Frauen, die aus dem Haus traten, um Kohlen zu holen, und Männer, die an diesem Tag nicht zum Fischen gefahren, aber aus Gewohnheit oder Rastlosigkeit früh aufgestanden waren; sie sollten die Ersten sein, die jenes Phänomen bemerkten, das die ganze Stadt später 'die Spur des Teufels' nannte, eine Bezeichnung, die nicht nur haftenblieb, sondern aus Gründen, die sich die Bewohner von Coldhaven nie eingestanden, zugleich eine verschroben klingende Umschreibung dessen war, was für Außenstehende und die eigene Nachwelt stets in Unglaube oder Ironie gehüllt bleiben sollte. Die Spur des Teufels: ein Titel wie der einer Ballade oder eines an einem verregneten Nachmittag aus der Bücherei entliehenen und später als eine seltsame alte Ansammlung von Unsinn abgetanen Buches, Worte, die stets nur gleichsam mit Anführungszeichen ausgesprochen wurden, falls man sie denn überhaupt laut aussprach, so als wäre der von ihnen gewählte Name für das Gesehene von der falschen Seite des Jenseits gekommen, geradeso wie die Spuren im Schnee, diese sauberen, tintenklecksigen Fährten eines spalthufigen Wesens, einer Kreatur, die nicht nur auf zwei Beinen von einem Ende des Städtchens zum anderen durch die Straßen und Gassen spaziert, sondern auch die Hausmauern hinaufgestapft war und hohe, von Krähenspuren übersäte Dächer auf ihrem schnurgerade Leseprobe