Autorenportrait
Richard C. Morais, geboren 1960 in Lissabon, ist der Autor des internationalen Bestsellers 'Madame Mallory und der kleine indische Küchenchef'. Der Amerikaner wuchs in der Schweiz auf und lebte achtzehn Jahre in London, wo er das Büro des Wirtschaftsmagazins 'Forbes' leitete. Heute ist er Redakteur der Zeitschrift 'Barron's Penta' und lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in New York. Zuletzt erschien von ihm 'Buddha in Brooklyn'.
Leseprobe
Das Leben eines Menschen ist wie ein Ball, der auf einem Fluss treibt, heißt es in den buddhistischen Schriften - gleich, was wir wollen oder wünschen, wir werden von einem unsichtbaren Strom mitgerissen, um schließlich in die grenzenlose Weite des schwarzen Ozeans gespült zu werden. Dieses Bild gefällt mir. Es besagt, dass es Zeiten gibt, in denen wir schwerelos auf der Oberfläche des Lebens treiben und uns träge von einem seichten Tümpel zum nächsten schwappen lassen. Doch dann, wenn wir es am wenigsten erwarten, geht es um eine Flussschleife herum, hinter der wir jäh einen tosenden Wasserfall hinabstürzen, in den aufgewühlten Abgrund, der sich darunter auftut. Genau diese Erfahrung habe ich gemacht. Und einige andere mehr. Auch wenn ich es kaum glauben kann: Meine Reise flussabwärts begann vor nunmehr sechs Jahrzehnten, als ich ohne viel Aufhebens in der Kleinstadt Katsurao geboren wurde, hoch oben in den Bergen der Präfektur Fukushima in Japan. Der Gasthof meiner Eltern lag nur acht Kilometer von dem neunhundert Jahre alten 'Quelltempel' der Quellwasser-Ordensgemeinschaft entfernt, die dem Mahayana-Buddhismus angehört. Als ich auf die Welt kam, besiedelten die fünfzehntausend Einwohner dieser kleinen Handelsstation am Fuße des Mount Nagata noch die felsigen Flussufer des Kappa-gawa, der sich unterhalb des Städtchens in einer Reihe kleinerer Wasserfälle in die von Reis bewachsene Ebene stürzte. Der obere Teil des Ortes bestand aus drei Gewerbeeinheiten, die von einer Fußgänger-Einkaufspassage, einem kleinen Busbahnhof und einer Handvoll niedriger Apartmentgebäude begrenzt wurden. Letztere beherbergten auch ein Krankenhaus, das in den Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut worden war. Darunter lag an den beiden Flussufern die Altstadt, deren schmale Gassen von einfachen Holzhäusern gesäumt waren. Ferner gab es ein paar Flachbauten mit kleinen Handwerksbetrieben - einen Schlosser, einen Holzschnitzer und einen Fischhändler -, die die Einwohner mit ihren Waren versorgten. Das Städtchen klammerte sich an die Uferhänge des tosenden Kappa-gawa, und die beiden Ortsteile waren durch zwei Steinbrücken miteinander verbunden. Jeden Tag begab sich unsere Nachbarin, die o-beinige Mrs Saito, zum mujinhanbai, einem herrenlosen Lebensmittelstand, dessen Besitzer auf die Ehrlichkeit der Leute vertraute, und legte für ihren Einkauf ein paar Münzen in die dafür vorgesehene Dose. Noch immer muss ich bei der Erinnerung schmunzeln, wie sie mit ihren Rüben und Kohlköpfen durch die schmalen Gassen nach Hause watschelte und wie eine Aufziehente über die untere Kopfsteinbrücke wackelte. Etwas Überirdisches lag über dieser aus Stein und Holz errichteten Kleinstadt an den felsigen Hängen des japanischen Gebirges. Nachts legte sich eine seidige Tauschicht auf die Dachziegel, die beiden Brücken und jeden Busch. Und sobald die ersten frühmorgendlichen Sonnenstrahlen die dünne Luft durchbrachen, löste sich der Tau auf und stieg als schwelender, rauchender Dampf auf, sodass es den Anschein hatte, als gehörten wir halb der diesseitigen und halb der jenseitigen Welt an. Der Gasthof unserer Familie hieß Lotusheim. Zu seinen Gästen zählten hauptsächlich die Pilger, die in unser abgelegenes Bergstädtchen kamen, um den Quelltempel zu besuchen. Mein Urgroßvater hatte das ryokan im neunzehnten Jahrhundert gebaut. Der Gasthof war eingezwängt zwischen die benachbarten Wohnhäuser, die sich dicht an dicht an den Rand der Felswand drängten. Jäh fiel sie zu dem Becken ab, das der Fluss an dieser Stelle bildete und das gleichzeitig als örtliches Schwimmbad diente. Das Haupthaus war durch einen kurzen, überdachten Durchgang mit einer Reihe kleinerer Nebengebäude verbunden, in denen Gästezimmer und Badehäuser untergebracht waren. Diese waren in den Zwanzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts hinzugefügt worden. Egal, in welchem Teil des Gebäudes man sich befand, ob bei Tag oder bei Nacht, stets konnte man dem Gemurmel des Flusses lauschen, das sich wie B
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