Beschreibung
"Niemand wider die Natur, keiner über die Natur, denn die Natur! Ist nicht dieser Mensch, der mit seiner Wissenschaft und Technik am tiefsten in das Herz der Natur wie ein Beutejäger einzudringen scheint, der mit seiner Technik diese Natur endlich zu unterjochen scheint, dass sie ihm wie ein gebändigter Riese dienen muss - ist dieser Mensch contra Naturam nicht eben die gewaltigste, die tiefste Äußerung und Betätigung dieser Natura ipsa, die uns gegeben ist?" In dieser literarischen Wiederentdeckung aus dem Jahre 1906 ergründet Wilhelm Bölsche die Wechselbeziehung zwischen Mensch, Natur und Kultur. Mehr denn je stellt sich heute die Frage, ob wir uns der Natur fügen werden und im "Ewigkeitsprozess des sieghaft Harmonischen" bestehen bleiben.
Autorenportrait
Bölsche gab die Werke namhafter deutscher Schriftsteller heraus. Obwohl die meisten Schriften Bölsches naturwissenschaftliche Themen behandeln, war er kein Naturwissenschaftler, sondern hat als Schriftsteller naturwissenschaftliche Themen popularisiert: Als ein fachkundiger Laie schrieb Bölsche für Laien. Mit seinem Buch Das Liebesleben in der Natur (1898) gilt Bölsche als der Schöpfer des modernen Sachbuches. Er war auch ein Initiator Deutschlands erster Volkshochschule und gab wichtige Impulse für die Lebensreformbewegung. In Dutzenden von Büchern und "Kosmos"-Bänden popularisierte der Freidenker, Monist und Evolutionär das Wissen seiner Zeit, vor allem die Entwicklungslehre von Charles Darwin und Ernst Haeckel. Über Darwin, Haeckel und Johann Wolfgang von Goethe schrieb er Biographien. Außerdem betätigte er sich als Herausgeber zahlreicher Autoren.
Leseprobe
Vielleicht stärker als je erscheinen gerade uns sensitiven Menschen von heute auch diese Dinge in ihrer ganzen Hölle. Und eine unendliche Sehnsucht ergreift uns dann, uns hinauszuretten in irgendeine stille Welt ohne dieses Wirrsal der moralischen Zweifel und Sünden. Wir fliehen das Getriebe der lärmenden Kultur, den Rauch der Stadt, den Zwist der Meinungen. So sind einst inmitten einer Stunde besonderer moralischer Krisen Rousseau und Forster in der Wirklichkeit ausgezogen, eine Friedensstätte zu finden. So sucht in der Dichtung Werther Hilfe irgendwohin vor unlösbarem sittlichen Konflikt. Wie Unzählige sind heute, die ihnen nachschauen. Wo aber glaubten diese Rousseau und Werther immer wieder wirklich sich am Herzen der wahren Friedensheimat geborgen? Doch wieder bei der Natur. In den furchtbarsten, unlösbaren Katastrophen des Menschen im sittlichen Konflikt, bei Sophokles wie in der "Braut von Messina", singt der Chor "auf den Bergen ist Freiheit", oder er preist den lieblichen Wiesengrund, wo die Nachtigallen aus den Büschen singen. Wenn der Großstädter sich heute vor dem Stampfen und Dröhnen des entsetzlichen, betäubenden Maschinenlärms seiner Kultur hinausrettet an den blauen, kiefernumsäumten See oder auf die Gebirgsmatten mit ihrem bunten Blütenteppich, so umfängt ihn der stille Frieden dieser Natur mit einer Süße, der nichts zu vergleichen ist. Das ist der Frieden, die Erlösung für das fiebernde Hirn. Ja, du bist der Frieden, du bist nicht der Teufel. Bei dir ist nicht der marternde Zweifel der Wahl. Bei dir ist nur die stille Logik. Die Sterne ziehen herauf und herab. Die Pflanzen blühen zu ihrer Zeit und schwinden nur, um zur rechten Stunde wiederzukommen. Was für ein wunderbarer Frieden liegt in dieser Logik. Der Stein klagt nicht, wenn er fällt. Bin ich nicht bloß das arme, verstoßene, verwirrte Wesen, das diese Heimat verloren hat - vom Teufel verlockt in eine Welt der moralischen Schmerzen und der Zweifel? Das Meer um unsere Insel ist nicht das Chaos, es ist das Reich des Friedens, der Erlösung. Das Elend beginnt erst in den Hütten am Strand. Wenn ich aber in solchem Naturfrieden auf meinem grauen Granitblock sitze, der allerdings nicht stöhnt, weil ich an ihm herumkritzele, sondern das alles wirklich mit der Ruhe des einfachen logischen Muss hinzunehmen scheint, und zu meinen Füßen blüht ein Kranz leuchtend roter Weidenröschen und die jungen Birken lodern wie lichtgrüne Flämmchen durch das Tal - dann spinnt sich mir der Gedanke gerade hier noch ein Stück weiter. Ich sage mir, dass jene Logik der Natur, die mir einen Moment als böser Teufelsspuk erscheinen wollte, ja doch auch in mir waltet und auch in meinem Besten. Alle jene Idealbildung, all jenes Ersehnen höherer, reinerer Dinge erfolgt, wenn ich es auf sein innerstes Werden, auf sein Uhrwerk gleichsam prüfe, ebenfalls nach einer ganz festen Gesetzmäßigkeit, die in ihrer Logik durchaus nicht verschieden ist von dem Laufe der Natur. Alles Gute, was ich durchsetze, was die Menschheit endlich durchsetzt, wird nur durchgesetzt durch peinlichste Beachtung der Logik. Selbst die herrlichsten Kunsterzeugnisse sind, obwohl intuitiv, Gebilde tiefinnerlichster strenger Logik. Und zuletzt - ich lasse meinen inneren Blick schweifen über die naturwissenschaftliche Lehre, die uns allen heute so in Fleisch und Blut überzugehen beginnt, weil ihre Beweise so unzweideutig geworden sind -: Was sind wir Menschen im Ganzen denn anders als ein Gebilde, ein Erzeugnis der Natur und ihrer allwaltenden Gesetzmäßigkeit? Wir sind nicht, wie ein kindliches, erfahrungsfernes Selbstgefühl träumte, von einem außernatürlichen Himmel auf dieses Kultureiland inmitten der grauen Teufelswasser herabgesetzt worden. Aus den blauen Wassern der Natur selbst sind wir aufgesprosst wie eine rosenrote Lotosblume, zuerst noch eingeschlossen in verhüllendem Kelch, dann endlich uns entfaltend, die Augen zum Himmel aufschlagend - zum blauen Himmel der Natur, der über uns ist wie die blaue Welle unter uns