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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783038670568
Sprache: Deutsch
Umfang: 176 S.
Format (T/L/B): 1.2 x 19.7 x 13 cm
Auflage: 1. Auflage 2021
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

'Gegen Gewicht' erzählt die Erlösungsgeschichte einer betäubten Mutter, die unter dem Druck ihrer beeinträchtigten und eigensinnigen Tochter nach und nach aufbricht. 'Ich fühlte mich, als sähe ich Aliena zum ersten Mal, als sähe ich sie wirklich, auf kleinen Pickeln kam sie meine Mauer hochgeklettert, mit jedem Einschlag barst der Beton, und als sie oben war, konnte ich sie sehen in ihrer Ganzheit, und ihre Schönheit drückte schwer auf mich, es schmerzte, ich fühlte es in der Kehle, ich fühlte es in der Brust, im Bauch, in den Beinen, Steine fielen nieder, krachten, Beton, der aufbricht.'

Autorenportrait

Andri Bänziger, 1992 geboren in Mötschwil, studierte Literarisches Schreiben am Literaturinstitut in Biel. Arbeitete in einer Leimfabrik, für Coop in der Früchte+Gemüse-Abteilung und als Behindertenbetreuer. In seiner Freizeit liegt er oft im Bett und schaut an die Decke. Andri Bänziger lebt in Biel.

Leseprobe

Wenn ich mich erinnere, fällt mir auf, wie gut ich darin war, einen ganzen Abend lang freundlich zu wirken, ich lächelte zu Schichtbeginn und lächelte noch, während ich das abgestandene Bier ausschüttete und die Flaschen sortierte, nachdem die letzten Gäste betrunken heimschwankten. Natürlich gab es Gäste, die ich mochte, wir hatten Stammkunden, von denen ich wusste, dass sie immer Trinkgeld gaben, selbst dann, wenn sie lange warten mussten, sie gaben immer etwas dazu nach jedem Getränk, das sie bestellten, und grosszügig, wenn sie gegessen hatten. Aber ein grosser Teil der Leute hatte die Freundlichkeit nicht verdient, das denke ich heute, das Geld, das ich verdiente, war nicht Grund genug, die Affen anzulächeln, und trotzdem tat ich es, ich nahm Extrawünsche entgegen, keinen Knoblauch, keine Zwiebeln bitte, ich hörte den öden Sprüchen zu, krieg ich ein Bärner Müntschi von dir, und ich meine nicht das Bier, ich lächelte und blieb nett, anständig, wie meine Eltern es von mir erwartet hätten. Das Lächeln war aber weder Ausdruck von Freundlichkeit noch von Fröhlichkeit, ich sagte, gern, gern bringe ich Ihnen ein neues Glas, aber während ich mit dem Gast sprach, dachte ich, wenn ich wiederkomme, strecke ich dich nieder, ich hau dir das volle Glas auf den Kopf, dann aber brachte ich ein neues Glas, lächelte, hier, bittesehr, und lächelnd beendete ich meine Schicht, eine fröhliche junge Frau, das sollten die Leute denken, und das hielt ich aufrecht, solange ich in verrauchten Nächten Getränke und kalte Platten servierte. [.] Sie sprach lange nicht, und als sie es konnte, hatte sie aufgrund ihres Down-Syndroms grosse Probleme, Wörter zu artikulieren, zwar war es ihr möglich, ein Wort zu denken, man konnte erkennen, dass es in ihrem Kopf war, aber sie vermochte es nicht in ein gesprochenes Wort umzuwandeln, es gab eine Verbindung zwischen Kopf und Mund, die unterbrochen war, die nicht richtig funktionierte, und so veränderte sich das gedachte Wort bis zum Ton, ähnlich dem Kinderspiel, bei dem ein Wort von Kind zu Kind geflüstert wird und schliesslich beim letzten Kind ankommt und ausgesprochen wird, eine Kette, die den Ursprung abändert und manchmal unkenntlich macht. Es war ihr nie möglich, ihren eigenen Namen auszusprechen. Sie nannte sich Aliena, schnell ausgesprochen, in einem Tonfall, der ihr eigen war, den sie für alle Wörter benutzte, sie sprach zügig, undeutlich und abgehackt. Sie veränderte die Wörter, packte sie in eine Form, die sie aussprechen konnte. Aliena! Sie nannte sich so oft und konsequent so, dass ich es übernahm, es war ihr gelungen, sich selbst zu benennen, ein Kind, das sich den Namen selbst gab und sich nicht in eine bestehende Sprache einfügte, sich ihre eigene schuf. Sie eroberte die Wörter. Ich hörte ihr gerne zu, niemanden hörte ich lieber sprechen. Sie lernte ungewöhnlich schnell laufen. Die anstrengendste Zeit meines Lebens begann. Jede Nacht weigerte sie sich einzuschlafen, obwohl sie in keinster Weise dazu gemacht war, lange wach zu bleiben. Schon frühabends waren ihre Augen knallrot, und sie war kaum mehr in der Lage, sie offen zu halten, aber sie ging nicht ins Bett. Ich fand sie auf der Treppe, zusammengeklappt, oder am Tisch, den Kopf auf der Platte, total am Ende. Sprach ich sie darauf an, dass es jetzt an der Zeit wäre, ins Bett zu gehen, protestierte sie wild, sie schrie, sie möge nicht schlafen, in ihren Worten, ihmagni!, sie sei nicht müde, ni müh!, und während sie sprach, blinzelte sie unkontrolliert, ihre Augendeckel schienen schwer zu sein. Doch sie ging nicht, sie ging nie ins Bett. Ich versuchte, sie zu tragen, legte sie ins Bett, deckte sie zu. Sie war so klein und leistete keine Gegenwehr. Ich trug sie die Treppe hoch zu ihrem Zimmer, bettete sie. Wenn ich ihr eine gute Nacht wünschte, sah sie mich an, und bei meinem Anblick, bei meinem Anblick voller Hoffnung, sie möge nun endlich einschlafen, konnte sie nicht mehr an sich halten, sie musste lachen, ihre Mundwinkel hoben s