Beschreibung
»In solch traumhafter Schwebe und doch entschiedener Dringlichkeit hat bisher wohl noch kein literarischer Text die Verwüstung der Lebensbedingungen auf unserem Planeten angesprochen. Junge Menschen aus allen Erdteilen, die meisten geflüchtet, einige hier aufgewachsen, bringen ihre unterschiedlich erlebten Besorgnisse um das Fortbestehen der Erde, der Menschen, der Tiere, der Wälder zur Sprache. Nicht ideologisieren, sondern poetisieren, lautet ihre Devise. Die teils geheimnisvollen, teils eingängigen, immer aber inspirierenden Äusserungen vereinigen sich zu einem mehrstimmigen Blues, in dem die melancholische Klage über die zerstörerischen Kräfte sich mischt mit dem nachdrücklichen Bemühen, etwas Neues zu schaffen - sofort. Der Chor der Stimmen hält fest, was zu tun ist, macht im Wortsinn von manifest sichtbar, wie der wachsenden Bedrängnis zu begegnen wäre, ermutigt zum Widerstand. Der erste Satz des im Verlauf des Textes allmählich entstehenden Manifests lautet: Wir wollen eine gute Welt für alle. Mit alle meinen wir alle!« Daniel Rothenbühler
Autorenportrait
Francesco Micieli ist in Italien geboren und verdient den Lebensunterhalt unter anderem mit Mentoraten und verschiedenen Schreibtätigkeiten.
Leseprobe
Ihre Zunge war spitz. Wie die Zunge eines kleinen Tiers, etwas zwischen Katze und kleinem Hund. Sie war an einem Nachmittag aufgetaucht als das ganze Land zu trinken schien, um gegen den Himmel zu schreien, wie dieses Land Gott nahe sei. Said sprach sie als Erster an, er sah in seinem Tellkostüm merkwürdig aus - im ursprünglichen Sinne des Wortes. Sie lachte ihn an und zeigte ihm die Zunge, dann setzte sie sich und begann in einem Buch zu lesen. Invitation au voyage Aimer à loisir Aimer et mourir Au pays qui te ressemble. Said erzählte nun lauter, wie er mit einem Messer angegriffen wurde, nur weil er einen Baum in Nottingham umarmt hatte, so in einem Augenblick des unsagbaren Glücks, das ihn wie eine unerwartete Botschaft erreicht hatte. Sie legte das Buch auf den Tisch, es sah aus wie ein Tier auf der Jagd, sie kam auf uns zu und sagte, ich gehe rauchen. Das war für uns wie ein Zeichen für einen Neuanfang. Ich kam mir etwas komisch vor mit meiner Habsburger Tracht. Aber egal. Draussen wartete die Freiheit. Wenn sie uns anschaute, fühlten wir uns durch ihre Blicke in eine wichtige Welt gehoben. Alles bekam einen Grund und war nicht wie unser Alltag, der durch unsere Kleiderspiele und durchs Zeittotschlagen bestimmt wurde. Es war der Sommer der Brände und Gewitter. Wir waren verängstigt. Die Welt schien zu sterben. Hitze und Überschwemmungen. Eine wild gewordene Riesin. Als Marcel mit den Armen so stark wedelte, sah es aus, als wollte er die Wolken verjagen. Es war dunkel wie an einem Wintertag. Klima, sagte sie, es hörte sich an wie eine Pizzabestellung am Morgen früh nach einer durchzechten Nacht. Und doch wussten wir genau, dass wir die verlorene Generation sein würden, und sie gab in unseren (provinziellen) Augen dem Ganzen eine gewisse Grösse. Wenn die Wälder uns verlassen, sagte sie, dann sind wir verloren. Nie hatten wir daran gedacht, dass Wälder uns verlassen könnten. Said erhob das Glas, es war leer und hatte einen traurigen Glanz. Aus einem Handtelefon ertönte »On the road again« von Canned Heat. Das ist der Sound zu unserem Untergang, der Weckruf, sagte Iwan Bunin und drehte sich eine weitere Zigarette. Bunins Eltern waren Zeugen Jehovas. An der Haltestelle Waldau stiegen wir aus und setzten uns in den Park. Said kaufte biologischen Wein. Wir tranken aus der Flasche, um die Pappbecher zu vermeiden. Eine Mail sagte mir, das Madame Naomi André mit ihren Millionen gefangen genommen wurde. In Frankreich. Sie will ihren Check retten und mit mir teilen, wenn ich ihr helfe, erzählte Bunin. Bitte, rette mein Leben! Alles Lügen, sagte Said, das weisst du ja. Marcel wusste, dass wir alle von ihr träumen in der Nacht, wenn wir nicht schlafen. Er sagte es nicht, dafür zeigte er uns scrollend Bilder aus Kabul. »Bringe Botschaft aus Afghanistan.« (Fontane) Was können wir tun? Eine kleine Gruppe, jung, aber nicht kräftig. »Das Mädchen spürt, dass der Blitz sie verzehrt.« (Thomas Kling) Wir werden den Sommer nicht überleben, schrie Bunin, wir werden auseinandergehen und jeder im kleinen Häuschen sich verstecken, das Geld fliesst und baut Mauern, soll alles verbrennen, alle verrecken. Bunin, du bist alt, du hast keine Hoffnung, sagte sie, und wir glaubten ihr. In diesem Sommer glaubten wir ihr alles. Sie hatte die richtige Stimme, den richtigen Ausdruck. Bunin glaubte ihr auch. Wir waren ihre Hunde, les jeunes chiens. Hunde geben uns das Gefühl, wir seien etwas Besonderes, weil sie so fixiert sind auf uns. Sie lachte. Brav, meine Hunde, brav. Wollt ihr meine Karriere kennen, fragte uns der Kellner. Da wir den Sommer in diesem Café verbrachten, war er zu einer Art Vater Unser geworden. Meine Karriere geht von »Sautschingg« zu »weisser, alter Mann«. Darauf tranken wir noch ein Bier. Said rauchte so, als wollte er die Zeit wegrauchen. Wir waren sehr traurig, aber unbeschwert. Marcel erteilte wieder seine Philosophielektionen hinter dem Tresen, während er dem Kellner aushalf. Die Frage war, was tun wir, wenn wir eine Person opfern müssten, um andere zu retten. Die eigene Mutter. Wann würde sie uns ihren Namen verraten? Wir wagten nicht zu fragen. Alfi war aus seinem Ursprungssüden zurück, er wagte es auch nicht. Obwohl braungebrannt und muskulös, Rettungsschwimmer. Wir nahmen an, es sei ihr wichtig, den Namen nicht zu verraten, Schliesslich ist ein Name Macht. Wer dich benennen kann, kann dich besitzen. Das glaubte Alfi. Der Garten des Cafés war das Richtige für uns, die Bäume gaben uns Schutz. Das Lokal hiess Watter - Gastfamilie für einen Sommer. Die Spatzen wussten das auch. Isma kam vorbei und setzte sich zu uns an den Tisch. Er war in einem Lastwagen versteckt geflüchtet. Die Welt habe sich ihm gedreht, als er nach dem Hafen von Bari festen Boden unter den Füssen hatte. Isma sagte, ah das Leben, und er sagte, was solls. Sein Lachen ist ansteckend, es ist das Lachen eines Geretteten. Er umarmte uns alle und verschwand wieder, ohne seinen Tee zu trinken.