Beschreibung
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand eine fortlaufende Debatte darüber statt, ob die Kulturgeschichte des Menschen wie ein Naturprozess zu erklären sei. Autoren wie Henry Thomas Buckle, Friedrich von Hellwald oder Emil Du Bois-Reymond schrieben Geschichte mit naturwissenschaftlichen Vorzeichen. Diese populären Darstellungen von geschichtswissenschaftlichen Autodidakten und Laien zwangen die Zunfthistoriker zu einer Reaktion. Sie bezogen Stellung zu den kontroversen Fragen, ob die Geschichtswissenschaft "verstehen" oder "erklären", die Willensakte handelnder Menschen oder die Gesetze von naturwüchsigen Strukturen und Verläufen erforschen soll. Und schließlich: ob es eine neue Einheit der erfahrungswissenschaftlichen Disziplinen geben kann. Die politische Geschichtsschreibung als Domäne der Geschichtswissenschaft stand der naturalisierten Kulturgeschichtsbeschreibung, die eine naturwissenschaftliche Universaldeutung der Weltgeschichte zu geben beabsichtigt und dabei auf quellenkritische Forschung verzichtet, besonders kritisch gegenüber. Trotz solcher Gegensätze sind beide auch aufeinander angewiesen. Sowohl die Laienkultur mit ihrer Faszination für die Erfahrungswissenschaften als auch die professionalisierte Universitätshistorie bilden beide Merkmale einer an die Wissenschaft und die Geschichtlichkeit im Besonderen glaubenden Gesellschaft. Wie weit sie ineinander aufgehen und inwiefern das Oppositionsverhältnis auch als Komplementarität verschiedener Formen von Geschichtsschreibung gedeutet werden kann, zeigt diese Studie.
Inhalt
I. Einleitung 1. Wer schreibt naturalisierte Kulturgeschichtsschreibung? 2. Kulturgeschichte und Historisierung als Wissenskultur II. Das Verhältnis von Natur und Kultur in der alten und neuen Kulturgeschichtsschreibung 1. Von der Kulturgeschichtsschreibung der Aufklärung bis zur Zäsur um 1850 2. Das Verhältnis von Kultur zu Natur seit Lamprecht 3. Der Blick der "neuen" auf die "alte" Kulturgeschichte 4. Naturalisierte Kulturgeschichte heute III. Die Kontroverse um Buckles naturwissenschaftliche Zivilisationsgeschichte 1. Droysens "Erhebung der Geschichte in den Rang einer Wissenschaft" 2. Erklären und Verstehen: Gesetze in der Geschichte 3. Natur, Naturwissenschaft und ihr Verhältnis zur Kultur in Buckles "Geschichte der Civilisation in England" 4. Die Rezeption Buckles in Deutschland über Droysen hinaus 4.1. Der deutsche Herausgeber der "History of Civilisation": Arnold Ruge 4.2. Usinger, Vorländer, Dilthey, von Dieterich und von Eicken 4.3. Buckle und die deutschen Kulturhistoriker IV. Kulturgeschichte als Naturgeschichte: der abhängige und der beherrschende Mensch 1. Der natürliche und der historische Mensch: Kulturgeschichte im Zeichen von Völkerpsychologie, Anthropologie und Ethnologie 1.1. Psychologie und Völkerpsychologie als Kulturgeschichte 1.1.1. Lazarus und Steinthal als Begründer der Völkerpsychologie 1.1.2. Die (Völker)psychologie bei Wundt und Dilthey 1.1.3. Lamprecht und die politischen Geschichtsschreibung 1.2. Anthropologie und Ethnologie als Kulturgeschichte 1.2.1. Theodor Waitz "Anthropologie" 1.2.2. Oscar Peschels "Völkerkunde" und dessen Vorläufer 1.2.3. Adolf Bastians Konzept der "Elementargedanken" und "Geographischen Provinzen" 1.3. Die Kulturgeschichte der Prähistorie: Völkerpsychologische und darwinistische Deutungen bei Otto Caspari 2. Darwinismus als Sinndeutung: Die Erfahrungswissenschaften im populärwissenschaftlichen Diskurs 2.1. Die Haeckel Virchow Kontroverse 2.2. Darwinismus und Kulturgeschichte 2.2.1. Exkurs I: Ein Briefwechsel zwischen Friedrich von Hellwald und Ernst Haeckel 2.2.2. Exkurs II: "Was macht Darwin populär?" 3. Kulturgeschichte als natürliche Entwicklungsgeschichte: Darwinismus und Kulturgeschichte am Beispiel Hellwalds 3.1. Hellwald Oberleutnant im Dienst der Kulturgeschichte 3.2. Hellwalds "Kulturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung" 3.2.1. Was die Kulturgeschichte Hellwalds will: "Wozu?" 3.2.2. Der Gegenstand von Hellwalds Kulturgeschichte 3.2.3. Die historische Interpretation von Kultur und Natur 3.3. Kulturgeschichtliche Erkenntnis und gesellschaftlicher Wandel 3.4. Ein Kapitel Kulturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung: Rom und seine Kultur 3.5. "Eine Culturgeschichte wie sie nicht sein soll" 3.6. Die Professionalisierung der Historie im Spiegel der Popularisierung 3.7. Idealismus und Materialismus: Zitelmanns Kritik an Hellwald 3.8. Die vierte Auflage von Hellwalds Kulturgeschichte 4. Kulturgeschichte als Geschichte der Naturwissenschaften: Du Bois-Reymond 4.1. Die bildungspolitische Diskussion 4.2. Naturwissenschaft und bürgerliche Geschichte 4.3. Wissenschaft als Einflußnahme auf die Gesellschaft 4.4. Du Bois-Reymond und die darwinistische Kulturgeschichte V. Politische Historie und naturalisierte Kulturgeschichte in Österreich: Ottokar Lorenz und Julius Lippert 1. Lorenz Erwiderung auf Du Bois-Reymond und sein Verhältnis zu den Naturwissenschaften 2. "Politik als historische Wissenschaft" 3. Lorenz und Lippert: Zwei österreichische Historiker VI. Schäfer und Gothein: Die Verwissenschaftlichung der Kulturgeschichtsschreibung 1. Dietrich Schäfer und "Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte" 1.1. Eine deutsche Karriere: vom Sohn eines Hafenarbeiters zum Großordinarius 1.2. Schäfer und die Kulturgeschichte 2. Gotheins Kulturgeschichtsschreibung als Integrationswissenschaft 2.1. "Daß ich Historiker bleibe, auch unter einer anderen Firma". Der Lebensweg des Nationalökonomen Gothein 2.2. Gotheins Erwiderung auf Schäfer VII. Kulturgeschichte und politische Geschichtsschreibung: Historisierung als Einheit der Weltanschauung VIII. Anhang 1. Briefwechsel zwischen Hellwald und Haeckel 2. Dove: "Was macht Darwin populär?"
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