Die linke Hand

Roman

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442741649
Sprache: Deutsch
Umfang: 368 S.
Format (T/L/B): 2.5 x 18.9 x 12.1 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Ein spannender historischer Abenteurroman voller unglaublicher Geschichten und dunkler Geheimnisse New England im 19. Jahrhundert: Der Waisenjunge Ren ist als Säugling im Heim der Franziskanermönche abgegeben worden, und schon damals fehlte ihm die linke Hand. So gern möchte er wissen, was mit ihm passiert ist, woher er kommt, wer seine Eltern sind. Als plötzlich ein junger Mann auftaucht, der behauptet, sein Bruder zu sein, ist er überglücklich. Doch der Fremde entführt ihn in eine abenteuerliche Welt von Gaunern, Trickdieben und Grabräubern, und Ren muss einige Bewährungsproben überstehen, bis er die Wahrheit über sich und seine Vergangenheit herausfindet …

Autorenportrait

Hannah Tinti wuchs in Salem, Massachusetts, auf. Ihr Erzählband 'Tanz der Tiere' (Luchterhand 2004) wurde für den PEN/Hemingway Award nominiert, ihr Debütroman "Die linke Hand" erhielt u.a. den John Sargent Sr. First Novel Prize, den Alex Award, wurde als eines der besten Bücher des Jahres ausgezeichnet und erschien in dreizehn Sprachen. Hannah Tinti ist die Herausgeberin des Literaturmagazins 'One Story'. Sie lebt in Brooklyn, New York.

Leseprobe

Der Mann erschien nach der Morgenandacht. Rasch verbreitete sich die Kunde, dass jemand gekommen war, und die Jungen von Saint Anthony knufften einander und wollten unbedingt einen kurzen Blick auf ihn werfen, als er sein Pferd ausspannte und es zum Wassertrog führte. Das Gesicht des Mannes war kaum zu erkennen, denn er hatte den Hut so tief ins Gesicht gezogen, dass die Krempe beinahe seine Nase berührte. Er schlang die Zügel um einen Pfosten und blieb neben dem Pferd stehen, tätschelte seinen Hals und sah ihm beim Trinken zu. Der Mann wartete, und die Jungen beobachteten ihn, und als die Stute endlich den Kopf hob, sahen sie, wie er sich vorbeugte, ihr über die Nase strich und ihr einen Kuss gab. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über die Lippen, nahm den Hut ab und ging quer über den Hof zum Klostergebäude. Es kamen oft Männer, um Kinder zu holen. Manchmal als billige Arbeitskräfte, manchmal, weil sie etwas Gutes tun wollten. Dann ließen die Ordensbrüder von Saint Anthony die Waisenknaben in einer Reihe antreten, und die Männer schritten sie ab und taxierten die Jungen. Folgte man ihren Blicken, war leicht zu erraten, wonach sie suchten. Meist waren es Jungen um die vierzehn - die größten, die aufgewecktesten, die kräftigsten. Dann wanderte ihr Blick hinunter zu denen, die noch kaum krabbeln konnten, und zu den tollpatschigen Zweijährigen - den noch Unverdorbenen und Unbefangenen. Übrig blieben die dazwischen - jene, die ihren Babyspeck und ihre Löckchen verloren hatten, aber noch nicht alt genug waren, um eine Hilfe zu sein. Diese Kinder wirkten zumeist verdrossen und hatten wenig mehr zu bieten als Läuse und üblen Milbenbefall. Ren war einer von ihnen. Er hatte keine Erinnerung daran, wie es angefangen hatte - weder an Mutter oder Vater, noch an eine Schwester oder einen Bruder. Sein Leben, das war hier, in Saint Anthony, und die Erinnerung setzte irgendwann mittendrin ein - mit dem Geruch von frisch gewaschenen Bettlaken und Seifenlauge, dem Geschmack wässriger Hafergrütze, dem Wissen, wie es sich anfühlte, wenn man einen Ziegel auf einen Stein fallen ließ und zusah, wie die roten Splitter absprangen, dann mit einer dieser bröseligen Ziegelscherben eine Wand im Kloster bekritzelte, dafür eine Ohrfeige kassierte und die staubige Schrift mit einem feuchten, kalten Lappen abwaschen musste. Jemand hatte Rens Namen in den Kragen seines Nachthemds gestickt. Drei Buchstaben aus dunkelblauem Garn. Das Hemdchen war aus gutem Leinen, und er hatte es getragen, bis er fast zwei war. Danach nahm man es ihm weg und gab es einem kleineren Jungen zum Anziehen. Ren lernte, diesen Edward im Auge zu behalten, nach ihm James, danach Nicholas, und sie im Hof in die Enge zu treiben. Dann drückte er das zappelnde Kind auf den Boden, musterte die verblassenden Buchstaben und fragte sich, welche Hand sie wohl eingestickt haben mochte. Das R und das E waren in kühnem Blattstich gearbeitet, das N hingegen war schmaler, nach rechts geneigt, als hätte die Person, die die Nadel führte, es eilig gehabt, die Arbeit zu beenden. Als das Hemd fadenscheinig wurde, zerschnitt man es zu Verbandsstreifen. Bruder Joseph gab Ren das Kragenstück mit den aufgestickten Buchstaben, und er bewahrte es nachts unter seinem Kopfkissen auf. Jetzt beobachtete Ren den Besucher, der auf den Stufen zur Priorei wartete. Der Mann drehte den Hut in seinen Händen hin und her und hinterließ dabei dunkle Abdrücke auf dem Filz. Die Tür ging auf, und er trat ein. Ein paar Minuten später kam Bruder Joseph heraus, um die Kinder zusammenzurufen, und sagte: 'Geht zur Statue.' Die Statue des heiligen Antonius stand in der Mitte des Hofs. Sie war aus Marmor gemeißelt und trug die Kutte der Franziskanermönche. Oben auf dem Scheitel war der Heilige kahl, und seine Stirn war umkränzt von einem Heiligenschein. In einer Hand hielt er eine Lilie und in der anderen ein kleines Kind mit einer Krone. Das Kind streckte die eine Hand demütig bittend aus und berührte mit der and