Beschreibung
Es ist das Jahr 1939, und auf dem Campus der Universität Indiana ist eine Revolution ausgebrochen. Alfred Kinsey, Zoologe, beschäftigt sich mit dem sexuellen Verhalten von Männern und Frauen - rein empirisch natürlich. John Milk, Student und ehrgeiziger Provinzler, gerät in seinen Bann und in seinen engsten Forscherkreis. T. C. Boyle erzählt die Geschichte eines genialen, fanatischen Helden und porträtiert dabei die prüde und heuchlerische Gesellschaft des Amerikas der vierziger und fünfziger Jahre.
Autorenportrait
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Leseprobe
An das Hotel kann ich mich kaum erinnern, und das ist sonderbar, denn diese Fahrt stellte einen markanten Einschnitt dar, aber die Hunderte von Kleinstädten und Hotels und Motels haben in mir anscheinend ein exemplarisches Bild entstehen lassen. Höchstwahrscheinlich war es ein Backsteinhaus aus dem vergangenen Jahrhundert, das sandgestrahlt und gestrichen werden mußte, und vermutlich stand es an der Hauptstraße, nicht weit vom Gerichtsgebäude. Schattenspendende Bäume, auf dem Bürgersteig vor dem Haus ein schlafender Hund, schräg geparkte Wagen. Das Haus hatte bestimmt drei Stockwerke und einen separaten Eingang für Restaurant und Bar. Um Geld zu sparen - Prok war ein Meister der Sparsamkeit -, teilten wir uns ein Zimmer. Das behielten wir auch in späteren Jahren bei, als zunächst Corcoran und dann Rutledge zu unserem Team stießen. Die Vorlesung. Brauchte Prok noch irgend etwas? Nein. Er stand mit nacktem Oberkörper im Badezimmer und rasierte sich. Dann zog er ein frisches Hemd an, band seine Fliege, schlüpfte in das Jackett und ging zügig in Richtung Uni, so daß sein Gastgeber, Professor McBride vom Institut für Soziologie, Mühe hatte, Schritt zu halten. Ich folgte ihnen. Als wir eintrafen, war der Hörsaal bereits gefüllt (selbst damals, in der Frühzeit unseres Projekts, eilte uns ein gewisser Ruf voraus, und wenn sämtliche Soziologieseminare zusammen sechzig Studenten auf die Beine brachten, dann waren die übrigen dreihundert Anwesenden Neugierige, die mal vorbeischauten und auf ein wenig Stimulation hofften). Prok sprach wie immer frei, ohne schriftliches Konzept, und wie immer schlug er das Auditorium vom ersten bis zum letzten Wort in seinen Bann. (Ob das Thema vorehelicher Sex, die Psychologie der sexuellen Repression, die Funktion adoleszenter Triebbefriedigung, die Geschichte der Sexforschung oder der Vergleich der Häufigkeit von Masturbation bei Männern und Frauen einer Altersgruppe war - für Prok spielte das keine Rolle. Alle seine Vorträge waren im Grunde ein einziger Vortrag. Und ich sollte hinzufügen, daß er eine natürliche Begabung besaß und nie auf irgendwelche Tricks oder theatralischen Gesten zurückgriff. Er sprach klar und deutlich und weitgehend unmoduliert, jeder Zoll ein Mann der Wissenschaft, der sich über ein für die ganze Menschheit enorm wichtiges Thema verbreitete. Er war kein Mark Anton oder gar ein Brutus, aber er machte seine Sache besser als irgendein anderer.) Und wie immer kamen anschließend viele, viele Studenten, die uns ihre Geschichten anvertrauen wollten, und Prok und ich saßen an einem langen Tisch hinter dem Podium und vergaben Termine. Abendessen? Ich kann mich nicht erinnern, ob wir an jenem Abend etwas gegessen haben - vielleicht ließen wir uns ein paar Sandwiches aufs Zimmer kommen -, aber wir begannen mit den Interviews, sobald sich der Hörsaal geleert hatte und wir wieder im Hotel waren. Prok führte seine Interviews in unserem Zimmer durch, und ich setzte mich in einen Nebenraum des Restaurants. Als ich fertig war, muß es schon nach Mitternacht gewesen sein (drei Soziologiestudenten, die sich freiwillig gemeldet hatten, weil sie bei Professor McBride ein paar Extrapunkte kriegen wollten; ihre Antworten waren erwartungsgemäß: nichts, was ich nicht bereits gehört hatte). Ich ließ mich mit einem verdünnten Drink in einen der Sessel in der Hotelhalle sinken und sah den Uhrzeigern zu, während Prok das letzte Interview des Abends beendete. Danach machten wir uns bereit, zu Bett zu gehen, und verglichen unsere Termine. Dabei entdeckten wir, daß wir einen Fehler gemacht hatten: Wir hatten für den nächsten Morgen zwei Frauen um dieselbe Uhrzeit bestellt, anstatt einen Mann und eine Frau. Entweder würden wir einen dieser Termine absagen müssen, oder ich wäre gezwungen, mein erstes Interview mit einer Frau zu führen, und das war etwas, was Prok mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht zutraute. Er sah vom Terminplan auf, schüttelte langsam den Kopf, erhob sich vom Sofa und ging ins Badezimmer, Leseprobe