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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783492304061
Sprache: Deutsch
Umfang: 460 S.
Format (T/L/B): 3.9 x 15.4 x 10.1 cm
Einband: gebundenes Buch

Autorenportrait

François Lelord, geboren 1953, studierte Medizin und Psychologie und wurde Psychiater, schloss jedoch seine Praxis, um zu reisen und sich und seinen Lesern die wirklich großen Fragen des Lebens zu beantworten. Er lebt mit seiner Frau in Paris und Thailand. 2004 eroberte er sich mit seinem Bestseller 'Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück' nicht nur in Deutschland ein Millionenpublikum. Weitere 'Hector'-Bücher und zahlreiche andere Publikationen folgten.

Leseprobe

Schon in den ersten Unterrichtsstunden hatte Julien diesen Hauch von Spannung zwischen Hoa - Blume auf Vietnamesisch - und sich gespürt. Immerhin waren sie zwei junge Menschen, die ganz nahe beieinander an dem großen Tisch mit den geschnitzten Drachenfüßen saßen, ganz allein in diesem weiträumigen, von Fluren und Treppenhäusern durchzogenen Haus. Es wäre so einfach gewesen, seine Hand auf die der jungen Frau zu legen. Und wenn ihre Köpfe einander nahe kamen, weil sich beide über das Heft beugten, um Juliens Rechtschreibfehler zu korrigieren, hätte er sich ihr zuwenden und sie küssen können. Um ein wenig Distanz zu schaffen, nannte er sie innerlich Mademoiselle Fleur, wie um ihr in ihrer Rolle als Lehrerin mehr Strenge zu verleihen. Sie kam ihm dabei durch eine gewisse Steifheit entgegen. 'Màu Xanh!', sagte sie mit strenger Stimme. 'Grün?' 'Ja', sagte sie. 'Aber heißt Màu Xanh nicht eigentlich blau?' 'Das auch', meinte sie leicht verlegen, als hätte Julien gerade den Finger auf eine Unzulänglichkeit ihrer Muttersprache gelegt. 'Also haben Sie das gleiche Wort für Grün und Blau - aber es sind doch zwei verschiedene Farben!' 'Das ist nicht so einfach.' Ein Satz, den er seit seiner Ankunft in Hanoi oft gehört hatte. Sobald man dachte, man hätte etwas begriffen, stellte man gleich wieder fest, dass es nicht so einfach war. 'Wenn man >blau< sagen will, sagt man zum Beispiel Màu Xanh tròi. tròi wie der Himmel. Und das bedeutet dann >himmelblau<', erklärte Mademoiselle Fleur in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. 'Ach so', sagte Julien und notierte sich den Ausdruck sorgfältig in seinem Schulheft. Wie viele junge Menschen, die in ein anderes Land kommen, hatte er die besten Absichten, dessen Bewohner zu verstehen und natürlich auch die Landessprache zu lernen. Aber auch das war nicht so einfach: Nach ein paar Dutzend Unterrichtsstunden glaubten Sie, Fortschritte gemacht zu haben, aber dann mussten Sie feststellen, dass abgesehen vom Lehrer oder vielleicht noch Ihrer Freundin kein Mensch Ihr Vietnamesisch verstand. Übrigens hatte Julien keine vietnamesische Freundin, denn es wäre ihm ein bisschen schamlos und banal vorgekommen, ein Land auf diese Weise zu entdecken, und überhaupt wäre es ihm niemals eingefallen, ein Abenteuer mit einer jungen Frau zu wagen, in die er sich nicht vorher verliebt hatte. Das war eine romantische Sichtweise, die er für sich behielt, denn er glaubte, sich damit lächerlich zu machen. Ihm war dabei nicht bewusst, dass er anziehend genug war, um auf diesem Gebiet alles andere als lächerlich zu wirken, und dass seine ungewöhnliche Ernsthaftigkeit ihn im Gegenteil noch attraktiver gemacht hätte. Und so unternahm er nichts, was die unsichtbare Mauer zwischen Mademoiselle Fleur und ihm hätte einreißen können. Er spürte, dass auch sie auf die große Liebe wartete, und die fände sie nicht bei ihm, einem Mann aus dem Westen, der in einer Familie, in der die Töchter auf die Universität gingen, nicht willkommen gewesen wäre. Wenn sie jetzt übereinander hergefallen wären, hätte das nur geheißen, dass sie der Heißblütigkeit der Jugend nachgegeben hätten und der Wärme dieser schwülen Nachmittage, an denen sich die Gewitterwolken über Hanoi zusammenschoben, ohne sich je zu entladen. Der Unterricht ging weiter - er versuchte, den Unterschied zwischen trang, der Farbe Weiß, und trang, dem Mond, herauszuhören. Wie bei jedem Wort änderte eine winzige Verschiebung des Lautes die Bedeutung. Geschrieben sah man es durch die verschiedenen Akzente, aber beim Hören. Bei alledem gratulierte Julien sich trotzdem dazu, in dieser fremdartigen und wunderbaren Umgebung zu leben, die so ganz anders war als das Alltagsuniversum seiner Kindheit und Jugend. Während sich seine Kommilitonen gerade damit abmühten, in ihrer Provinzstadt eine Praxis aufzubauen oder eine Stelle im Krankenhaus zu finden, lernte er eine ungewöhnliche Fremdsprache mit einer jungen Frau, die seinen Freundinnen ganz unähnlich war