Beschreibung
Schon als Kind musste sich Anne Cormac, geboren im Jahre 1700 als uneheliche Tochter eines wohlhabenden irischen Rechtsanwalts und einer Hausangestellten, als Junge verkleiden, damit niemand ihre wahre Identität herausfinden konnte. Nachdem ihre Eltern dann in das amerikanische Charles Town ausgewandert waren, damals Zentrum des florierenden Sklavenhandels und christlicher Doppelmoral, sollte sie plötzlich die sittsame Tochter sein, Spinett spielen und Französisch lernen und schöne Kleider tragen. Das ist nicht ihr Ding. Heimlich lernt sie bei dem Indianer Charles Vierfeder den Umgang mit Waffen und Pferden. Mit 15 nutzt sie die erstbeste Gelegenheit auszubrechen: Sie heiratet heimlich den Freibeuter James Bonn, der mit ihrem Vater Geschäfte macht, und flüchtet mit ihm nach Nassau, auf die berüchtigte Pirateninsel New Providence. Als ihr Mann sie kurz darauf verlässt, tut sie sich mit Jack Rackham, "Calico Jack", zusammen. Sie gehen gemeinsam auf Kaperfahrt und es dauert nicht lange, bis Anne das Kommando auf dem Schiff übernimmt. Anne scheut zwar vor Kämpfen nicht zurück und ist berüchtigt für ihr Draufgängertum, aber ihre Spezialität ist es, die Handelsschiffe durch Tricks und Finten in einen Hinterhalt zu locken und sie ohne Verluste unter ihren eigenen Männern zu kapern. Eines Tages greifen sie vor einer kleinen Insel ein Kanu auf und Anne verliebt sich auf der Stelle in einen der Matrosen - es ist eine Frau in Männerkleidung, Mary Read, ebenfalls eine berüchtigte Piratin. Auf die Liebe zwischen Frauen steht in jenen Zeiten die Todesstrafe, aber da das Gespann Mary-Anne der Schiffsbesatzung erstklassige Prisen verschafft, wird diese Beziehung von den Piraten toleriert. Gemeinsam machen sie die Karibik unsicher - bis der englische König im Kampf gegen die Freibeuter seine letzte Trumpfkarte zieht: Durch eine Amnestie wird die etwa tausendköpfige Piratengemeinde in Nassau aufgemischt. Anne und Mary sind fast die Einzigen, die sich weigern, der Freibeuterei abzuschwören. Ihres Stützpunkts beraubt, werden sie verfolgt und schließlich auch gefangen. Durch einen Trick ("Wir berufen uns auf unsere Bäuche!") werden sie nicht gehängt, sondern zu lebenslanger Haft begnadigt. Mary, die tatsächlich schwanger ist, stirbt im Gefängnis - und Anne? Gerüchten zufolge konnte sie fliehen und taucht wenige Jahre später als der berüchtigte Freibeuter Bartholomew Roberts im Indischen Ozean wieder auf.
Autorenportrait
Manfred Theisen wurde 1962 in Köln geboren. Er studierte Germanistik, Anglistik, und Politik. Forschte zwei Jahre für das deutsche Innenministerium in der Sowjetunion, gründete einen Entwicklungshilfe-Verein in Äthiopien, arbeitete als Redakteur und leitete eine Kölner Zeitungsredaktion. Heute lebt er als freier Autor in Köln.
Leseprobe
Bill stand im Ausguck und legte die Hände zu einem Trichter um den Mund. Er rief den Matrosen an Deck etwas zu, was sie sofort in Aufregung versetzte. Anne war unten in der Kajüte und konnte ihn nicht hören. Aber die Neuigkeit drang schnell durch die offenen Luken hinab ins Schiff, ging von Mund zu Mund, verbreitete sich in den muffigen Gängen, wo die Luft nach Teer und Nässe, Küchendunst und Schweiß roch, kroch unter den Türen hindurch in die Kajüten. 'Land in Sicht!' William Cormac wollte seinen Ohren zuerst nicht trauen. Doch als er die funkelnd grünen Augen seiner Tochter sah, wusste er, dass sie es ebenfalls gehört hatte. Anne fiel ihm um den Hals. Dann drehte sie sich zu ihrer Mutter um, die im Bett lag: 'Mama, wach auf!' Ihr Vater hielt sie zurück. 'Lass sie schlafen', meinte er. 'Sie hat das Pulver vom Schiffsarzt genommen. Komm, wir gehen an Deck und sehen uns Amerika an. Es ist besser, sie ruht sich aus, bis wir morgen anlegen.' Die meisten Passagiere drängten sich schon vorne an der Reling und sahen rechts und links von der Bugspriet hinaus aufs Meer. Die Segel der Wing waren gewölbt wie ein riesiger Bierbauch. Anne Cormac rannte zu den anderen Kindern und suchte mit den Augen den Horizont ab. Hinter den Wellenkämmen, die weiß auf dem grünblauen Meer lagen, musste Land zu sehen sein. Aber sie konnte nichts entdecken: kein Grün, kein Braun, kein Land. Nur Wasser. Wie jeden Abend versank die Sonne am Horizont, nur um am nächsten Morgen gegenüber wieder aus dem nassen Bett aufzusteigen. 'Da ist Land! Ich hab's mit eigenen Augen gesehen. Es ist grün.' Bill, der Schiffsjunge, der eben noch im Ausguck gestanden hatte, hockte plötzlich neben Anne und blickte sie schräg von unten an. Doch ehe sie etwas sagen konnte, fuhr die scharfe Stimme eines Matrosen dazwischen: 'Quatschst du schon wieder die Passagiere voll? Wenn du nicht so ein Jungspunt wärst, würde ich dir die Hölle zeigen!' 'Ich komme ja', antwortete Bill. Und Anne flüsterte er zu: 'Wir treffen uns später.' Sie nickte, obwohl Bill schon verschwunden war. Anne schaute wieder hinaus aufs Meer. Seit sechs Wochen nichts als Wasser. Das letzte Land waren ein paar bewaldete Inseln vor der portugiesischen Küste gewesen. Anne hatte sich die Überfahrt nach Amerika anders vorgestellt. Die meiste Zeit verbrachten alle unter Deck in den muffigen Kajüten und starrten auf die Öllampen, die wie die Pendel einer Uhr hin und her schwangen. Im Unterdeck stand das Wasser, das durch die Luken in den Rumpf schwappte, und die Feuchtigkeit zog wie ein unaufhaltsamer Geist durch das ganze Schiff. Selbst die Decken für die Nacht waren klamm wie Scheuerlappen. 'Ich gehe hinunter. Gleich ist es ohnehin dunkel', sagte der Vater. Anne folgte ihm. William Cormac war ein hoch gewachsener, vornehmer Mann, der auch während der Fahrt stets korrekt gekleidet war - er rasierte sich regelmäßig und selbst die Schnüre, mit denen seine Hosen unter den Knien zugebunden wurden, waren an den Rändern glatt und nicht aufgeriffelt. Trotz der Hitze trug er seine hellbraune Weste über dem weißen Hemd und das Gesicht eines jeden, der mit ihm sprach, spiegelte sich in den blank polierten Messingknöpfen seiner Jacke. 'Sie schläft noch', sagte Cormac leise, als sie die gemeinsame Kajüte betraten. Der Raum maß gerade zwei Schritte in der Breite und drei in der Länge. Die Luft war erdrückend schwül und schwer. Für Annes Mutter Mary war die Reise eine Flucht und ein Fluch zugleich. Wie konnte William glauben, dass es in Charles Town besser würde als in Irland? 'Ab morgen wird sich dein Leben ändern, Anne.' Cormac setzte sich auf die Bank und betrachtete Anne, die in der Tür stand. 'Du wirst Kleider tragen, eine Schule besuchen und Freundinnen haben wie andere Mädchen. Und du wirst Milton lesen und lernen, wie man mit dem Fächer umgeht.' 'Kann ich noch mal nach oben?', fragte Anne, die davon nichts hören wollte. 'Wenn du morgen ...
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