Beschreibung
Historikerinnen und Historiker aus Deutschland und den USA (u. a. Kathleen Canning, Belinda Davis, Atina Grossmann, Birthe Kundrus und Angelika Schaser) überprüfen, inwieweit nach fast 40 Jahren Frauen- und Geschlechtergeschichte ''Geschlecht'' als Kategorie in den Geschichtswissenschaften etabliert wurde. Sie orientieren sich an Schlüsselthemen der neueren deutschen Geschichte: Nation und Staat, Militär und Krieg, Kolonialismus, Staatsbürgerschaft, Religion, jüdische Geschichte, Drittes Reich und Holocaust, Körper und Familie. Die Einbeziehung der Kategorie ''Geschlecht'', so das Ergebnis, hat zu weitreichenden Neuinterpretationen der Vergangenheit geführt.
Autorenportrait
Karen Hagemann ist Professorin für Geschichte an der University of North Carolina in Chapel Hill. Jean H. Quataert ist Professorin für Geschichte an der Binghamton University, State University of New York.
Leseprobe
Der vorliegende Band bilanziert in transatlantischer Perspektive den Einfluss der Frauen- und Geschlechterforschung auf die Geschichtsschreibung zur neueren deutschen Geschichte. Die Beiträge von elf renommierten amerikanischen und deutschen Historikerinnen und Historikern analysieren anhand von Fallstudien zu Schlüsselthemen der deutschen Geschichte den Wandel der Historiographie in den letzten vier Jahrzehnten und vergleichen die Forschungsentwicklung und den Forschungsstand in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten. Eingehend wird für zentrale Forschungsfelder der deutschen Geschichte verglichen, inwieweit die Theorieansätze, Methoden und Themen der Frauen- und Geschlechtergeschichte jeweils Eingang in die Forschung und Geschichtsschreibung gefunden haben. Durch diesen komparativen Ansatz werden die Auswirkungen unterschiedlicher institutioneller Rahmenbedingungen und Professionalisierungsanforderungen sowie historiographischer Traditionen erkennbar. Ferner kann auf diese Weise das Zusammenspiel der unterschiedlichen Faktoren, die eine Integration der Frauen- und Geschlechtergeschichte in die Disziplin behinderten und förderten, und dessen Wandel sichtbar gemacht werden. Die neuere deutsche Geschichte erweist sich für eine solche Analyse des Gendering, das heißt des Um- und Neuschreibens der sogenannten allgemeinen Geschichte aus der Geschlechterperspektive, in mehrfacher Hinsicht als ergiebig. Die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die im Zentrum des vorliegenden Buches steht, wirft viele Fragen auf, die auch für Historikerinnen und Historiker anderer Länder von zentraler Bedeutung sind. Dazu gehören: die sozialen und politischen Verwerfungen in Folge der Industrialisierung und der Herausbildung eines Nationalstaats, die Ambivalenzen, Paradoxien und Widersprüche der gesellschaftlichen Modernisierung, die Konflikte und Spannungen um die Durchsetzung des politischen, sozialen und zivilen Staatsbürgerrechts für verschiedene soziale Schichten sowie für Männer und Frauen, die Rolle von Massengewalt und Genozid in der modernen Geschichte und die Auswirkungen von zwei Weltkriegen sowie des Kalten Krieges auf die Geschlechterverhältnisse. Angesichts der Extreme, die die moderne deutsche Geschichte prägten, haben sich die hierzu arbeitenden Historikerinnen und Historiker in den letzten vier Jahrzehnten intensiv mit der Problematik von Gewalt und Krieg, von Opfern und (Mit-)Tätern, von Erfahrung, Erinnerung und kollektivem Gedächtnis sowie Schuld, Sühne und Wiedergutmachung auseinandersetzen müssen. In der Folge waren und sind die theoretischen und methodologischen Debatten, die zur modernen deutschen Geschichte geführt werden, auch für die Geschichtsschreibung anderer Länder anregend. Die deutsche Geschichte bietet darüber hinaus die einzigartige Gelegenheit, die Bedeutung von Geschlechterdifferenzen und Geschlechterverhältnissen unter den Bedingungen höchst unterschiedlicher politischer Regime und Systeme auszuloten - der repräsentativen Monarchie, der parlamentarischen Republik sowie der nationalsozialistischen und sozialistischen Diktatur. Hinzu kommt, dass die deutsche Historiographie bei der internationalen Entwicklung der Disziplin zu einer akademischen Profession eine gewichtige Rolle gespielt hat. Geschichte als Wissenschaft geht in ihren Anfängen in nicht unerheblichem Maß auf die deutschen Forschungstraditionen des Historismus zurück. Deren bekanntester Vertreter ist Leopold von Ranke (1795-1886), der von 1825 bis 1871 als Professor der Geschichte an der Berliner Universität lehrte und von vielen als einer der Gründerväter der westlichen Geschichtsschreibung betrachtet wird. Der historistische Ansatz maß der Forschung in Archiven und der Lektüre und Interpretation von Primärquellen große Bedeutung bei, betonte die Wichtigkeit einer sorgfältigen Ausbildung der angehenden Historiker in universitären Seminaren und erklärte zudem die Herausbildung des aufkommenden Nationalstaats zum vorrangigen Gegenstand historischer Untersuchung. Kurz, Ranke und seine Schüler trugen in erheblichem Maße dazu bei, die akademische Geschichtsschreibung als eine Meistererzählung des entstehenden Nationalstaates zu etablieren. Angelika Schaser zeigt in ihrem Beitrag in diesem Band, wie sich in Deutschland Geschichtsschreibung und Nationalstaat "parallel ausbildeten" und damit eine "Borussifizierung" des deutschen Verständnisses von Geschichte einherging, die mit ihrer Konzentration auf die Territorien des späteren "kleindeutschen" Staatengebildes und dem (nachträglichen) Ausschluss Österreichs aus der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts eine noch heute einflussreiche Tradition von Nationalgeschichte in Deutschland bestimmt. Diese Verbindung von Methode und Gegenstand bestimmte die lange ungebrochen vorherrschende Auffassung von den zentralen Gegenständen der Geschichtswissenschaft; als solche galten Innen- und Außenpolitik, Volkswirtschaft, Militär und Krieg. Mit diesen von Männerinteressen bestimmten Forschungsschwerpunkten ging die Entwicklung eines wichtigen, wenngleich begrenzten theoretischen und methodischen Repertoires und einer allgemein anerkannten Begrifflichkeit für die historische Forschung und das akademische Schreiben ebenso einher wie die Festlegung kanonisierter historischer Epochen und Schlüsselereignisse. Es versteht sich von selbst, dass Geschichte in dieser Tradition in einem doppelten Sinne als männlich verstanden wurde: als von Männern gemacht und von Männern geschrieben. Dies schien den meisten Historikern lange so selbstverständlich zu sein, dass sie dies selten explizit machten und ihre de facto hochgradig geschlechtsbestimmten Meistererzählungen als "allgemeine Geschichte" ausgaben. Die obigen Überlegungen bilden den gemeinsamen Ausgangspunkt der Beiträge für diesen Band und verweisen zugleich auf ein ungelöstes Paradox des Vorhabens: Einerseits erstrebt das Buchprojekt ein Um- bzw. Neuschreiben der deutschen Geschichte aus der Geschlechterperspektive. Es geht aber zugleich von einem nationalstaatlich geordneten geographischen Raum als Untersuchungseinheit aus, dessen politische Grenzen sich in den letzten zweihundert Jahren erheblich verändert haben. Damit knüpft es nicht nur an die traditionelle Fokussierung auf die Nation als gegebener historischer Untersuchungseinheit an, sondern bestätigt sie. Andererseits beförderte die Frauen- und Geschlechtergeschichte von Anfang an den transnationalen wie den interdisziplinären Austausch und versuchte nationale und disziplinäre Begrenzungen zu überwinden. Wie noch zu zeigen sein wird, hat dieser in einem mehrfachen Sinne grenzüberschreitende Zugang in vielen Forschungsfeldern in erheblichem Maße die Interpretation der Nationalgeschichtsschreibung verändert, häufig allerdings ohne den nationalen Untersuchungsrahmen zu sprengen. Die Geschlechterperspektive stellt damit weit über die deutsche Geschichte hinaus durchaus eine Herausforderung für die vorherrschenden Interpretationen nationaler Meistererzählungen dar. Mit Blick auf die deutsche Geschichte hoffen wir, einige der Schwierigkeiten, Vielschichtigkeiten und Widersprüche einer modernen Geschichtsschreibung zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufzeigen zu können. Im Folgenden werden wir zunächst den konzeptionellen Rahmen für unsere vergleichende Analyse erläutern, um dann knapp die Entwicklung der Frauen- und Geschlechtergeschichte in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland nachzuzeichnen. Dabei arbeiten wir zunächst die Unterschiede in der Entwicklung des Forschungsfeldes und im Grad der Professionalisierung heraus und versuchen anschließend, eine kritische Bestandsaufnahme der Beiträge dieses Bandes und damit der Forschung zu leisten. Am Schluss steht eine vergleichende Betrachtung der im Jahr 2004 abgehaltenen nationalen Kongresse der Berufsverbände der amerikanischen und deutschen Historikerinnen und Historiker, die den aktuellen Stand der Integration der Geschlechtergesch...
Inhalt
Vorwort Karen Hagemann und Jean H. Quataert Einführung: Geschichte und Geschlechter Geschichtsschreibung und akademische Kultur in Westdeutschland und den USA im Vergleich Karen Hagemann und Jean H. Quataert 1. Nation, Identität und Geschlecht Nationalgeschichtsschreibung und historische Frauen- und Geschlechterforschung Angelika Schaser 2. Krieg, Militär und Mainstream Geschlechtergeschichte und Militärgeschichte Karen Hagemann 3. Blinde Flecken Das Deutsche Reich und seine Kolonien in geschlechtergeschichtlicher Perspektive Birthe Kundrus 4. Das Private ist politisch Geschlecht, Politik und Protest in der neuen deutschen Geschichte Belinda Davis 5. Klasse, Staatsbürgerschaft und Wohlfahrtsstaat Geschlechtergeschichte als Begriffsgeschichte Kathleen Canning 6. Religion und Geschlecht Ein historiographischer Überblick zur neueren deutschen Geschichte Ann Taylor Allen 7. Juden, Frauen und Deutsche Jüdische und deutsche Geschichtsschreibung in transatlantischer Perspektive Benjamin Maria Baader 8. Geschlecht, Gedächtnis und Geschichtsschreibung Die Historiographie zum Dritten Reich und zum Holocaust Claudia A. Koonz 9. Sexualität, Körper und das große Unbehagen Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts Atina Grossmann 10. Unbenannt und allgegenwärtig Die Familie in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung Robert G. Moeller Autorinnen und Autoren Namensregister Sachregister
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