Beschreibung
Wissen wird erzeugt, weitergereicht, vermehrt, aber auch wieder vergessen, unterdrückt oder vernichtet. Es ist ein heftig umworbenes Gut, das moderne Gesellschaften konstituiert und heute als wichtigster Rohstoff gilt. Als gesellschaftliches Produkt hat das Wissen aber auch eine Geschichte. Jede Kultur schafft sich ihren Kosmos nützlichen Wissens, vermischt mit religiösen Überzeugungen, Alltagshypothesen und Vorurteilen. Dieser Geschichte des Wissens gehen die Autoren des Bandes in acht mit leichter Feder geschriebenen Essays aus Sicht verschiedener Disziplinen nach: Philosophie, Mittelalterliche Geschichte, Ethnologie sowie Rechts-, Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte. Sie ziehen damit die Bilanz aus zehn Jahren Forschung am Frankfurter Kolleg 'Wissenskultur und Gesellschaft '. Mit Beiträgen von Wolfgang Detel, Moritz Epple, Johannes Fried, Karl-Heinz Kohl, Matthias Lutz- Bachmann, Werner Plumpe, Bertram Schefold und Michael Stolleis.
Autorenportrait
Johannes Fried ist Professor em. für Mittelalterliche Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Professor Michael Stolleis ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt.
Leseprobe
Wissen als soziales System: Wissenskultur im Mittelalter Johannes Fried Fatti non foste a viver come bruti, ma per seguir virtute e conoscenza. "Ihr seid nicht da, zu leben wie die Tiere, Ihr sollt nach Tugend und nach Wissen streben." Der 26. Gesang des "Inferno" ist berühmt. Dante ließ hier Odysseus den Untergang beschreiben, den diesem Bezwinger Trojas seine Wissensgier bereiten sollte, als er - ein "Wahnsinnsflug" (folle volo) - jenseits der Säulen des Herkules (also der Straße von Gibraltar) das offene Meer nach Westen und Süden durchdrang, dorthin, wohin kein Mensch sich hinauswagen sollte. Ein Riesengebirge türmte sich auf, ein Strudel öffnete sich, "bis über uns die Wogen sich geschlossen". Tod und Hölle dem - so lautet Dantes Botschaft -, der über die gottgesetzten Grenzen hinausstürmte, "um die Welt zu erforschen" (a divenir del mondo esperto). In der Tat, die Kirchenväter - voran Augustinus - hatten Grenzen gewiesen. Weltkenntnis, grenzenloses Wissenwollen, Neugier allein, um dem Wissenstrieb zu frönen, verschafften keine Seligkeit. Gott hatte die Welt nach Maß und Gewicht und Zahl geordnet; und das zu wissen, solche Schönheit im Betrachten zu rühmen, mochte genügen. Odysseus' hoher Sinn entsprang denn auch heidnisch-antiker Überlieferung und entsprach mit eben jenem Inhalt, den der Held ihm verlieh, gerade nicht dem christlich überformten Tugendideal der Zeit um 1300. Vor ihm war Odysseus' Fahrt stolze Anmaßung, Herausforderung Gottes, gottloser Wahn. Dante aber war ein treuer Sohn der Kirche, kein Protohumanist. Tod und Hölle also dem, der Gott zu trotzen wagte, der der Grenzen spottete, die dem menschlichen Geist gezogen, der neugierig forschte. Irdischer Forscherdrang mündete in Untergang. Und so übertragen Heutige es denn gewöhnlich auf das ganze christliche Mittelalter: Dasselbe wollte beten, nicht forschen; wollte Klöster und Kathedralen bauen, keine Laboratorien; es trennte schroff zwischen wahr und häretisch, degradierte die Philosophie zur Magd der Theologie und opferte die wissenschaftliche Aufklärung blind machendem Glauben und mythischer Gottesschau. Indes, die Kirche sprach von den Dichtern nicht den Florentiner Dante selig, sondern den Katalanen Ramón Lull. Er fingierte, als Dante warnte, einen Kardinal, der zur Missionsvorbereitung die Welt in zwölf Sektoren teilte, in die er zwölf Schiffe entsandte, um sie zu erforschen. Der Katalane hatte wirklich unbekanntes Land im Auge, neues Wissen, echte Forschungsexpeditionen; er dachte zum Beispiel an das sagenumwobene Sigilmessa, die ferne Handelsstadt am Niger, jenseits der Sahara, und an die berüchtigten Quellen des Nil. Ramón hatte eine brüske Kehrtwendung vollzogen. Das Ziel, das er verfolgte, die Mission, erlaubte nun, was Dante noch verboten schien, die Erforschung der ganzen Welt, soweit menschlicher Fuß sie nur betreten oder befahren konnte, das Vordringen zu Unbekanntem, um Gott zu dienen. Das Illegitime hatte Legitimität gewonnen. Im Jahre 1291 waren tatsächlich drei Genuesen, Thedisio Doria, Ugolino Vivaldi und dessen Bruder, Kaufleute, von zwei Mönchen begleitet, aufgebrochen, um Afrika im Westen zu umsegeln; die erste Forschungsexpedition des Abendlandes, von der wir Kenntnis haben. Sie kehrte nicht zurück. Dem Katalanen wird es ebensowenig verborgen geblieben sein wie dem Florentiner; vermutlich war das kühne Unternehmen der Genuesen beider Vorbild. "Der Herr behüte sie und führe sie gesund und wohlbehalten in die Heimat zurück", flehte auch der Genueser Annalist vergeblich, dem wir das Wissen um die Expedition verdanken. Die Männer blieben verschollen. Doch nicht Höllenangst, Bewunderung begleitete ihr waghalsiges Unternehmen, der Wille, die Welt gezielt und systematisch zu entdecken, um mit ihr ins Geschäft zu kommen oder um sie Christus und seiner Kirche zu unterwerfen. Wissbegier, Systematik, Mission und kaufmännisches Gewinnstreben hatten einander längst gefunden. Das geographische Wissen eignet sich hervorragend, um die Wissenskultur des Mittelalters zu illustrieren. Schon vor den Brüdern Vivaldi hatte sich der Horizont im Osten gehoben und ins Unermessliche geweitet, hatten todesmutige Mönche als Boten des Papstes in der Folge des Mongoleneinfalls von 1240-42 die Reisewege nach Fernost, erst durch Südsibirien, sodann die Seidenstraße entlang, an den Hof des Großkhan in Khan Baliq, Peking, erkundet, den Blick für die unermesslichen Weiten Asiens und seine Völkermassen, für die unglaublichen, allen biblischen und antiken Angaben widersprechenden Disproportionen der Erde geschärft und alsbald das neue Wissen zu fundieren begonnen, das später Christoph Columbus nach Westen aufbrechen ließ, um im Osten zu landen. Die Kaufleute folgten den Mönchen auf dem Fuß. Allenthalben entstanden Handelsniederlassungen. In Teheran, Khan Baliq und andernorts traf man schon im späteren 13. Jahrhundert Kaufleute aus Genua, Venedig oder Konstantinopel. Die Reisenden begnügten sich freilich nicht mit der bloßen Anschauung. Sie begegneten dem Orient im Besitz eines aus der Antike ererbten Wissens. Plinius, Solinus oder der Alexanderroman konfrontierten sie beispielsweise mit eigentümlichen Monstern, Wesen nämlich mit einem Auge auf der Stirn, mit dem Gesicht auf der Brust, mit nur einem übergroßen Fuß, in dessen Schatten sie lebten, und dessen Sohle zu den Schenkeln zeigte, wie Räder rollend, nicht gehend, ohne Münder, vom Dampf der Speisen lebend und dergleichen Fabelwesen mehr. Alle Reisenden, die Bericht erstatteten, suchten nach diesen Monstern, im Verlangen, einer Sache auf den Grund zu gehen, die für sie als autoritativ verstandene Überlieferung und damit als gelehrtes Argument existierte, im Verlangen nach Gewissheit des Tradierten. Es machte die Lateiner brennend vor Neugier, einer theoretischen Neugier, die im Willen, die Welt zu erfahren gründete. Seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert trat noch die rätselhafte Gestalt des Priesterkönigs Johannes hinzu, von dem die westliche Christenheit mit dem Papst an der Spitze sich Hilfe gegen die Muslime und für das Heilige Land erwartete. Bald machte man sich auf die Suche nach ihm, glaubte, ihn bei den Mongolen entdeckt zu haben oder in Äthiopien und durchfuhr die halbe Welt auf der Suche nach ihm - vergebens. Er blieb verborgen. Missionar und Kaufmann, Abenteurer und Gelehrter arbeiteten Hand in Hand. Heidnisches und christliches, jüdisches und arabisches, buchgelehrtes und praktisches Wissen, genaue Beobachtung und Quantifizierung durften sich fortan zur Wissenschaft vereinen, um die Erde zu entdecken und das Entdeckte gedanklich zu einem neuen Weltbild zu verbinden. Selbstverständlich war das nicht. So waren um die Jahrtausendwende Wikinger, von Grönland kommend, auf "Vinland" gelandet, auf Neufundland nämlich, hatten mithin Amerika betreten, doch ihr Wissen für sich behalten, und kein Columbus ahnte, als er sich an Bord der Santa Maria einschiffte, etwas von dem Land im Westen. Mangelnde oder inkorrekte Vernetzung disparaten Wissens und unzureichende Kommunikation hemmten Erkenntnis und Forschung immer wieder. Selbst der katalanische Atlas, ein geographisches Wunderwerk des 14. Jahrhunderts, verbreitete von Irland noch die alte Fabel, dass es dort weder Schlangen noch Kröten, noch giftige Spinnen gäbe, wohl aber Bäume, die Vögel trügen so wie andere Bäume reife Feigen.
Inhalt
Inhalt Einleitung Michael Stolleis Wissen als soziales System: Wissenskultur im Mittelalter Johannes Fried Wissenskultur im Aufbruch: Zur Neuformierung der "Politischen Theorie" im Mittelalter Matthias Lutz-Bachmann Der lernfähige und lernende Staat Michael Stolleis Wissen als ökonomisches Gut Bertram Schefold Der Abschied von der Gesellschaft: Sozioökonomischer Strukturwandel und die Paradoxien des Wissens in den 1960er bis 1980er Jahren Werner Plumpe Kulturen der Forschung: Mathematik und Modernität am Beginn des 20. Jahrhunderts Moritz Epple Die Ethnologie und die Rekonstruktion traditioneller Ordnungen Karl-Heinz Kohl Wissenskulturen und universelle Rationalität Wolfgang Detel Personenregister
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