Beschreibung
Ein Ba''al Schem ist ein jüdischer Wundermann, der mithilfe von praktischer Kabbala heilt und Wunder wirkt. Über 40 davon gab es seit dem Mittelalter im aschkenasischen Judentum. Der letzte Ba''al Schem in Westeuropa war Seckel Löb Wormser aus Michelstadt. Das Grab des im Jahre 1847 Verstorbenen ist heute ein viel besuchter Wallfahrtsort. Karl E. Grözinger schildert Leben und Wirken dieses europaweit bekannten Mannes und zieht einen einmaligen Vergleich zwischen Legende und Wirklichkeit. Das Buch enthält außerdem einen Neuabdruck der Legendensammlung vom Leben des Ba''al Schem sowie eine Vielzahl deutscher und hebräischer historischer Dokumente.
Autorenportrait
Karl Erich Grözinger war bis 2007 Professor für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Er ist Autor des Standardwerks "Jüdisches Denken", dessen vierter und letzter Band in Vorbereitung ist.
Leseprobe
Die Michelstädter Baal-Schem-Legende Das Schönste, was man vom Michelstädter Baal Schem kennt, ist natürlich die Legende, die Naftali Herz Ehrman, alias Judaeus, in seinem Der Baal Schem von Michelstadt erzählt. Allerdings ist es zum richtigen Verstehen dieses kleinen Buches wichtig, dass man die Erzählung der Legende von den tatsächlichen historischen Begebenheiten unterscheidet und sich nicht von den im vorigen Kapitel genannten Autoren zu dem Glauben verleiten lässt, die wunderbaren Dinge seien so, wie dort beschrieben, tatsächlich geschehen. Gerade weil in Ehrmanns Michelstädter Baal-Schem-Legende wirklich Historisches und Authentisches mit der Legende vermischt ist, wollen seine Texte glauben machen, alles sei tatsächlich so geschehen wie von ihm erzählt. Hier soll jedoch die Historie von der Legende geschieden werden, nicht um zu zerstören, sondern um zu zeigen, wie die Legende die oft schnöde Realität verschönern kann. Die Legende ist Literatur, schöne Literatur, die den Leser aus den Niederungen der Wirklichkeit in eine Welt der Hoffnung und des Glaubens an das Gute führen will. Woran, so wird man darum fragen, erkennt man die Legende? Wie kann man sie von der Historie unterscheiden? Die einfachste Antwort wäre natürlich die, dass alles, was mit der Erfahrung und dem wissenschaftlichen Weltbild nicht übereinstimmt, Legende ist. Aber dagegen könnte man mit Mathilde Maier und einem der Helden in Arthur Kahns Erzählung das Hamlet-Zitat anführen: 'Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt.' Es wäre in der Tat zu einfach, alles als wirklich geschehen auszuschließen, was nicht unserem eigenen Erfahrungshorizont entspricht. Darum will ich zur Beantwortung der Frage, wie man Legende von der historischen Wirklichkeit scheiden kann, einen etwas anderen Weg beschreiten. Ein verbreitetes Phänomen der Legende ist es, dass in der Legende Stoffe, Motive, ja auch ganze Erzählungen von einem zum anderen Helden wandern. Das heißt, dass dieselbe Geschichte von verschiedenen Heiligen aus verschiedenen Zeiten und Orten erzählt wird, wobei der Erzähler nur das Personal und die geographischen und kulturellen Realia austauscht. Allerdings ist dabei zu beachten, dass die Erzähler solcher geliehener Geschichten oft unterschiedliche Erzählungsziele verfolgen, eine andere Botschaft vermitteln wollen, weshalb sie natürlich hier und dort in den übernommenen Text eingreifen oder ihn sehr frei umgestalten. Es ist eben dies, das bei einer ganzen Reihe von Erzählungen in der Michelstädter Baal-Schem-Legende geschehen ist. Naftali Herz Ehrmann hat sich in der hebräischen und jiddischen Literatur, genauer in der Baal Schem Literatur des osteuropäischen Hasidismus umgetan, hat von dort Teile seines Erzählmaterials übernommen und auf den Michelstädter übertragen. Die Quelle, aus der Ehrmann bei seiner Arbeit schöpfte, lässt sich ziemlich genau bestimmen, denn es gibt eine große umfassende hebräische Legendensammlung des osteuropäischen Hasidismus, in der sich wenigstens drei der beim Michelstädter wiederkehrenden Erzählungen finden. Die genannte Quelle ist das anonym, ohne Orts- und Datumsangabe erschienene Werk Sefer Kehal Hasidim, 'Das Buch von der Gemeinde der Hasidim'. Dieses Buch, das eine umfassende Sammlung älterer hasidischer Geschichtenbücher darstellt, ist mit größter Wahrscheinlichkeit zwischen 1864-1867 in Warschau erschienen. Und es besteht kein Zweifel, dass Ehrmann, wie Martin Buber zur selben Zeit, aus dieser osteuropäischen Legendenliteratur schöpfte. Die drei Erzählungen, oder Erzählkomplexe, der Michelstädter Baal-Schem-Legende, deren Ursprung in jenem Kehal Hasidim sich findet, sind erstens die Geschichte von der wunderbar im letzten Augenblick verschafften Mitgift für die Tochter von Rabbi Wolf Muhr, die zweite ist die Geschichte von Gott als Geschäftspartner, und schließlich die abschließende Erzählung von dem jüdischen Bischof, der vom Baal Schem zum Judentum zurückgebracht wurde. Ich werde hier das letzte Beispiel ausführlich und die beiden anderen zusammenfassend vorstellen, damit dem Leser die Übertragung von Erzählungen aus dem osteuropäischen Hasidismus auf den Michelstädter Baal Schem glaubhaft vor Augen tritt. Von da ausgehend kann dann die legendenhafte Umgestaltung einiger historischer Elemente in der Michelstädter Baal-Schem-Legende verfolgt werden, bevor schließlich der Schritt zur harten historischen Realität der Archivalien aus Darmstadt und Michelstadt getan wird.