Beschreibung
Die Vorstellung, modernes Recht sei eng an die politische Organisationsform des Staates gebunden, verliert in jüngster Zeit immer mehr an Plausibilität: Transnationale Unternehmen schaffen sich in vielen Bereichen ihre eigenen Regeln und tragen Konflikte vor privat vereinbarten Schiedsgerichten aus. Globale Systeme wie der internationale Finanzmarkt oder das Internet regulieren sich weitgehend selbst, der Staat bestimmt allenfalls die Randbedingungen. Regierungen treffen Vereinbarungen untereinander - G 8, G 20 -, die keine völkerrechtlichen Verträge im herkömmlichen Sinne sind. Inwiefern handelt es sich hier noch um Recht und welche Rolle spielt dabei der Staat? Ein Blick in die Rechtsgeschichte zeigt, dass es stets eine Pluralität des Rechts und der rechtsetzenden Autoritäten gab.
Autorenportrait
InhaltsangabeInhalt Vorwort7 Recht ohne Staat? Stefan Kadelbach und Klaus Günther9 Verfassungen ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes Gunther Teubner49 Unternehmen als Normunternehmer: Global Governance und das Gemeinwohl Klaus Dieter Wolf101 Modernes Investitionsschutzrecht - Ein Beispiel für entstaatlichte Setzung und Durchsetzung von Recht Rainer Hofmann119 Katholisches Kirchenrecht und Moraltheologie im 16. Jahrhundert: Eine globale normative Ordnung im Schatten schwacher Staatlichkeit Thomas Duve147 Recht ohne Staat im Staat: Eine rechtsethnologische Betrachtung Franz von Benda-Beckmann175 Vom Naturrecht der Urgesellschaft zu den kulturellen Rechten indigener Völker: Rechtsethnologische Konstruktionen und Reflexionen Susanne Schröter201 Autorinnen und Autoren229
Leseprobe
Kann es Recht ohne Staat geben? Diese Frage hat in verschiedenen Zyklen Rechtssoziologen, Rechtsethnologen, Rechtstheoretiker, Rechtshistoriker sowie Wirtschafts- und Privatrechtler beschäftigt. Das anhaltende Interesse an ihr hat verschiedene Ursachen. Zum einen hat sich der Staat nach dem Siegeszug neoliberaler Wirtschaftspolitik seit den achtziger Jahren bewusst von vielen Bereichen, teils auch von regelrechten Kernaufgaben, zurückgezogen. Zum zweiten wird als Kehrseite der zunehmenden globalen Mobilität von Unternehmen und Kapital und den mit ihr einhergehenden Optionen, sich dem Zugriff eines (national-)staatlichen Rechts zu entziehen, ein Schwinden der Staatlichkeit wahrgenommen. Zeitgleich vollzog sich, drittens, eine Entterritorialisierung des Rechts: Ein guter Teil des Handels wird über elektronische Medien von Gesellschaften und Reedereien vereinbart, die sich nicht ohne Weiteres innerhalb eines Staatsgebietes lokalisieren lassen; Recht wandert mit grenzüberschreitend tätigen Akteuren: Seien dies Unternehmen, internationale Zusammenschlüsse von Anwaltskanzleien, Entwicklungshilfeorganisationen oder Armeen, sie alle bringen eigene Standards in ihre Wirkungsgebiete mit. Viertens schließlich macht sich der Einfluss der anglophonen Rechts- und Sozialwissenschaften bemerkbar, für die eine notwendige Verknüpfung von Staat und Recht noch nie als so essenziell galt, wie dies nach der sehr speziellen Geschichte des deutschen Rechtsstaates hierzulande lange der Fall war. Eine der Folgen dieser Dissoziation von Staat und Recht ist ein Wiedererwachen der Theorie des Rechtspluralismus. Rechtspluralismus herrscht auf einem sozialen Feld, auf dem mehr als eine rechtliche Ordnung gilt. Das staatlich gesetzte Recht wäre dann nicht das einzige Recht in einer Gesellschaft; vielmehr gibt es neben dem Staat auch noch andere gesellschaftliche Formationen mit rechtsetzender Autorität, die kollektiv verbindliche Normen schaffen. Um ein Wiedererwachen handelt es sich, weil der Rechtspluralismus historisch gleichsam der Normalfall ist und ein einheitliches, exklusives, um eine staatliche Autorität zentriertes Recht die Ausnahme. Abgesehen davon, dass sich bezweifeln lässt, ob ein solcher Rechtszentralismus eine triftige Beschreibung moderner Staaten der Gegenwart ist, scheint er den Blick auf die lange rechtspluralistische Vergangenheit eher verstellt zu haben. Für diejenigen, die ein Absterben des Staates beobachten, ist die rechtspluralistische Perspektive intuitiv plausibel. Der Blick richtet sich auf mögliche Surrogate staatlicher Gesetzgebung, die in privater Selbstregulierung, der Normproduktion supra- und internationaler Organisationen oder in staatlich-privaten Hybridnormierungen erkannt werden. Die Vielzahl von Normproduzenten, die mit der Zeit auf den Plan getreten sind, lässt sich, so scheint es, zwanglos in ein neues Bild einfügen, das nicht mehr von einem einheitlich gedachten staatlichen Willen, sondern von der Fragmentiertheit der Gesellschaft und ihres Rechts ausgeht. Innerstaatliches oder auch exterritorial wirkendes staatliches Recht hätte hier ebenso seinen Platz wie das Völkerrecht, die lex mercatoria des internationalen Handels und die corporate governance-Standards multinationaler Unternehmen, aber auch schwächer normierte Vereinbarungen oder Prozeduren zwischen Regierungen oder Regierungen und privaten Unternehmen, schließlich auch die normsetzenden Aktivitäten vieler Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Die funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft kann rechtstheoretisch beschrieben, womöglich sogar erklärt werden. Allerdings stellen sich neue Fragen. So wird man sich mit dem Einwand beschäftigen müssen, dass nicht alles, was Vertreter des Rechtspluralismus als Recht einordnen, Recht sei. Wenn sich eine Gruppe von Unternehmen freiwillig zur Einhaltung bestimmter Umweltstandards verpflichtet - handelt es sich dann um "Recht"? Der Einwand zielt auf eine zentrale Kontroverse um den Rechtspluralismus. Die Theorie kennt verschiedene Rechtsbegriffe, die danach divergieren, ob die Rückführung auf eine oberste Grundnorm und die durch sie statuierte Befugnis zur Ausübung von Zwang, das Faktum formalisierter Anerkennung oder der Bindungswille der Betroffenen maßgeblich sein soll. Können verschiedene dieser Rechtsbegriffe koexistieren? Kann es das geben, was nach der Reinen Rechtslehre logisch ausgeschlossen ist, eine Mehrzahl von Grundnormen? Und wenn nicht, wie ist es nach einem normativistischen Rechtsbegriff zu erklären, dass sich andere Normen als wirkmächtiger erweisen als das staatlich gesetzte Recht? Oder kommt es auf den Rechtsbegriff nicht an, soll alles Recht sein, was die Beteiligten subjektiv so bezeichnen? Genügt eine andere Form sozialer Kontrolle? Und wie legitim sind Normen, die nicht das Verfahren staatlicher Rechtsetzung, insbesondere nicht den demokratischen Prozess parlamentarischer Gesetzgebung durchlaufen haben? Und wie ist es um diejenigen bestellt, die von den Folgen der Entscheidung innerhalb einer der vielen nebeneinander existierenden Rechtsordnungen zwar in Form von Nachteilen und Kosten betroffen sind, aber mangels Zugehörigkeit an der Entscheidung selbst nicht beteiligt waren? Wer nach einem Recht ohne Staat fragt, mag sich der Strittigkeit des Rechtsbegriffs bewusst sein, doch wird der Begriff des Staates meist ohne Problematisierung vorausgesetzt. Für die Rechtswissenschaft ist dies weniger dramatisch, da sie sich auf die Definition von Georg Jellinek verständigt hat, der zufolge der Staat durch die drei Elemente Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt bestimmt wird. Der Staat ist das umfassendste Konzept, die Gesellschaft und ihre Teile werden in ihm und durch ihn organisiert. Sozialwissenschaftliche Theorien des Rechtspluralismus setzen die Akzente anders. Jellineks Drei-Elemente-Lehre ist letztlich eine formalisierte, des sozialen Kontextes entkleidete Version der soziologischen, auf Max Weber zurückgehenden Beschreibung, der zufolge der Staat ein organisatorischer Zusammenschluss der Bevölkerung eines begrenzbaren Gebietes unter einem zentralisierten Verwaltungsapparat ist, der über das Monopol der Anwendung physischen Zwangs zur Einhaltung der Rechtsordnung verfügt. Der Staat wird danach als eine Form der politischen Gemeinschaft, mithin als ein Teil der ihn organisierenden Gesellschaft gesehen. Für die Soziologie stellt sich somit die Frage nach einem Recht ohne Staat unter anderen Voraussetzungen. Im Gegensatz zu einem juristischen Verständnis etwa kelsenianischer oder Hart'scher Prägung, das Recht als Produkt des verfassungsrechtlich geordneten politischen Systems auffasst, kann sie Recht auch als gesellschaftliches Phänomen begreifen. Damit kommen auch Normen als Recht infrage, die außerhalb des politischen Systems entstehen. Auch aus historischer Sicht liegt diese Annahme nahe, wohingegen sich der juristische Staatsbegriff auf den modernen Flächenstaat mit souveräner Staatsgewalt bezieht. John Griffiths hat die Unterscheidung zwischen "starkem" und "schwachem" Rechtspluralismus eingeführt; die "starke" Version sieht Recht vor, das von staatlicher Anerkennung unabhängig ist, während die "schwache" einen Zustand bezeichnet, in dem nichtstaatliche Ordnungen (zum Beispiel lokale Bräuche und Gewohnheiten) unter dem Vorbehalt staatlicher Anerkennung (zum Beispiel durch ein staatliches Gericht) stehen. Ob starker Rechtspluralismus als Recht ohne Staat möglich ist, ist demnach auch zu einem guten Teil ein Definitionsproblem. Diese Divergenzen zwischen den verschiedenen Perspektiven lassen sich nicht auflösen, doch sind sie in Rechnung zu stellen, wenn hier versucht wird, die Debatte nachzuzeichnen. Dabei werden als "staatlich" alle Normen verstanden, an deren Setzung oder Anwendung der Staat beteiligt ist. Dazu gehört auch die Rechtsetzung internationaler Organisationen im völkerrechtlichen Sinne, also die gesamte Normproduktion von Regierungsorganisationen. Im Folgenden sollen zunäc...
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