Beschreibung
Entgrenzte Arbeit, hochflexible Arbeitsorganisationen und die "Erosion des Normalarbeitsverhältnisses" sind viel thematisierte Schlagworte des heutigen Berufslebens. Druck, Stress, Erschöpfungszustände und Unzufriedenheit gelten als die symptomatischen Begleiterscheinungen dieser postfordistischen Arbeitskultur. Aus der Perspektive von Wissenschaftlern, Gewerkschaften, Arbeitsmarktforschung, Krankenkassen, Berufs- und Fachverbänden analysieren die Autoren zentrale gesamtgesellschaftliche Fragen: Was ist das Riskante an den Arbeitswelten und wie wirkt sich der Wandel von Arbeit auf die Qualität der Tätigkeit aus?
Autorenportrait
Rolf Haubl ist Professor und Geschäftsführender Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main, Brigitte Hausinger, Dr. phil., war Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Supervision in Köln. Sie verstarb im März 2016. G. Günter Voß ist Professor für Industrie- und Techniksoziologie an der TU Chemnitz.
Leseprobe
Riskante Arbeitswelten - Zur Einführung G. Günter Voß, Brigitte Hausinger, Rolf Haubl Vielfältige, oft als Megatrends bezeichnete Entwicklungen von großer Tragweite verändern nachhaltig unsere Gesellschaft: Globalisierung, Migration, Individualisierung, demographischer Wandel, neue Technologien, Finanzkrisen, Umweltprobleme oder der Anstieg der sozialen Ungleichheit greifen tief in unsere Sozialstruktur und schließlich in unsere Lebenswelt ein. Eine besondere Bedeutung haben dabei die Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels auf die Arbeitswelten. Es vollzieht sich kontinuierlich ein Strukturwandel von (erwerbsförmiger) Arbeit und Beschäftigung in modernen Gesellschaften. Seit den 1980er Jahren ist jedoch nach übereinstimmender Beurteilung zahlreicher Expert/innen ein erheblich beschleunigter Wandel der Arbeitswelten in den meisten Industrienationen und dabei noch einmal in besonderer Weise in Deutschland zu beobachten. Dieser Wandel kann auf allen Ebenen festgestellt werden, etwa bei Veränderungen der großflächigen Berufs- und Qualifikationsstrukturen, auf dem Arbeitsmarkt (Gundert und Urban in diesem Band; Voß/Wetzel 2012) oder im Bereich der betrieblichen Organisation von Arbeit sowie in den unmittelbaren Arbeitsverhältnissen. Gerade die Veränderungen auf diesen Ebenen sind höchst vielgestaltig und betreffen nahezu alle Dimensionen der Organisation von Arbeit und Beschäftigung (Hausinger in diesem Band). Die schon länger vor diesem Hintergrund diskutierten Schlagwörter zur Benennung des Wandels sind die "Erosion des Normalarbeitsverhält-nisses" (Sauer 2005) und die "Entgrenzung von Arbeit" (Gottschall/Voß 2005; Kratzer 2003). Damit werden Aspekte des Wandels von Arbeit benannt, die mit einer im Zuge systematischer Flexibilisierung oder Deregulierung sich einstellenden Ausdünnung (und nicht selten auch der Wegfall) über viele Jahrzehnte für die Regulierung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen geltenden typischen Strukturen (etwa der Arbeitszeiten) einhergehen. Diese Entgrenzung, Flexibilisierung und Deregulierung von Arbeit fordern vor allem die betroffenen Erwerbstätigen auf neue Art und Weise. Mit dem Begriff der "Subjektivierung von Arbeit" (Moldaschl/Voß 2003) wird hervorgehoben, dass die Auflösung von begrenzenden Regulierungen von Arbeit für Beschäftigte bedeutet, immer mehr eigenverantwortlich die Organisation und den Inhalt ihrer Arbeit zu entwickeln und zu gestalten. Daraus folgt, dass die Beschäftigten verstärkt ihre gesamten persönlichen Potenziale einbringen und selbstständig mit den Auswirkungen einer sich intensivierenden und völlig neuartigen Anforderungen stellenden Arbeit fertig werden müssen. Dieser Strukturwandel und diese (neuen) Arbeitsformen und -anforderungen zeigen zum einen Folgen für die Qualität und Professionalität von Arbeit (Voß/Handrich in diesem Band), aber auch Folgen für die Art und das Ausmaß psychosozialer Belastungen (King in diesem Band). Druck, Stress, Erschöpfungszustände und Arbeitsunzufriedenheit sind trotz Unterschieden zwischen Branchen, Berufsgruppen und Geschlechtern längst in der Masse der Organisationen und in den Führungsetagen angekommen (Haubl und Kerschgens in diesem Band). Aus immer mehr Bereichen wird berichtet, dass arbeitsbedingte Erschöpfungserkrankungen und psychische Symptomatiken (zum Beispiel das öffentlich viel diskutierte Burnout) bei Erwerbstätigen in einem steigenden Ausmaß auftreten (Schröder in diesem Band). Inzwischen liegen eine große Zahl von wissenschaftlichen Studien unterschiedlichster Art vor, die derartige Folgen des Wandels der Arbeit untersucht und dokumentieren haben (Keupp/Dill 2010; Lohmann-Haislah 2012; Schröder/Urban 2012; DGB-Index 2013; Voß/Weiß 2013). Parallel wird dieses Thema auch von Beobachtern mit allgemeiner gesellschaftlicher Perspektive aufgegriffen und breit diskutiert. Zeitdiagnostische Begriffe, wie das "erschöpfte Selbst", die "erschöpfte Gesellschaft" (etwa Ehrenberg 2011a, 2011 b; Neckel/Wagner 2013) oder die "Müdigkeitsgesellschaft" (Han 2010) finden große öffentliche Aufmerksamkeit. Der Anstieg der Belastungen und psychischen Erkrankungen sowie die Zunahme von Gefährdungen der psychischen Gesundheit hat aus Sicht der Herausgebenden viel mit den Arbeitsprozessen und deren stetigen Reformen und Umstrukturierungen zu tun. Die Arbeitswelten sind unsicherer, volatiler und komplexer geworden. Fragen, vor denen Mitarbeitende wie Organisationen und Einzelne wie Gesellschaft gleichermaßen stehen, lauten: Was ist das Riskante an den Arbeitswelten? Und wie kann ein adäquates Verständnis von und ein Umgang mit riskanten Auswirkungen erfolgen? Vor dem Hintergrund der oben genannten Entwicklungen und Fragen präsentiert der vorliegende Band einen Überblick und Stellungnahmen zu möglichen Risiken oder bereits eingetretenen Folgen. Um diesen Ent-wicklungen und den Fragen auch in ihrer Komplexität und Verwobenheit gerecht zu werden, greift der Band unterschiedliche Perspektiven relevanter gesellschaftlicher Akteure sowie von Wissenschaftler/innen auf und stellt deren Befunde und Einschätzungen vor. Diese Ausgangsbasis bietet in der heterogenen und kontrovers disku-tierten Situation die Möglichkeit, über erforderliche wissenschaftliche und politisch-praktische Schritte nachzudenken, um so von der vereinzelten Bestandsaufnahme auf Grundlage gemeinsamer Einschätzungen zu zukünftigen Gestaltungsempfehlungen zu gelangen. Denn trotz der offenkundigen Präsenz, Relevanz und öffentlichen Aufmerksamkeit der Problematik mangelt es an Vernetzung und tragfähigen Optionen, die die Vielschichtigkeit der Arbeitswelten mit einbeziehen. Im ersten Teil des Buchs findet sich ein Überblicksartikel zum Wandel der Arbeitsqualität in Deutschland (Gundert) sowie Kommentierungen der riskanten psychosozialen Folgen des Wandels der Arbeit aus der Sicht wichtiger Interessenpositionen bzw. von institutionellen Akteuren, die im Problemfeld aktiv sind: der Gewerkschaften, hier die IG Metall bzw. des DGB (Urban), der Krankenkassen, hier das WIdO (Schröder), und eines Berufs- und Fachverbands, hier die Deutsche Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv) (Hausinger). Der zweite Teil des Buches enthält weiterführende Überlegungen zu ausgewählten Themenaspekten "riskanter Arbeit" im oben genannten Sinne aus der Sicht der Wissenschaft, darunter mehrheitlich Beteiligte an den Studien Arbeit und Leben in Organisationen, die hier einzelne Aspekte wie Qualität und Professionalität (Voß/Handrich), Zeit und Identität (King), Selbstfürsorge und Gender (Kerschgens) sowie Resi-lienz und Organisationskultur (Haubl) herausgreifen und vertiefend erörtern. Auch die Herausgeber dieses Bandes haben Untersuchungen (siehe Exkurs) vorgelegt, mit denen schon früh auf eine sich zuspitzende psychosoziale Situation in der sich wandelnden Arbeitswelt hingewiesen wurde. Die Befunde erfuhren eine breite öffentliche Reaktion, und sie regten weitere gesellschaftliche Diskurse und kontroverse Debatten über den arbeitsweltlichen Wandel und seine Folgen an. Es fanden mehrere Tagungen mit dem Titel "Veränderungsdynamik und deren Folgen" sowie eine Tagung mit dem Titel "Riskante Arbeitswelten" in der Evangelischen Akademie Tutzing statt. Die Tagungen waren jeweils prominent und interdisziplinär besetzt. An dieser Stelle danken wir Herrn Dr. Martin Held (Studienleiter für Wirtschaft, Nachhaltige Entwicklung an der Evangelischen Akademie Tutzing) für die langjährige, erfolgreiche und konstruktive Zusammenarbeit und den anregenden Austausch! Ebenso danken wir den zahlreichen Vortragenden und Mitwirkenden auf den Tagungen, die mit der Vielfalt ihrer Beiträge dazu beigetragen haben, zu weiteren fundierten Erkenntnissen auf der Suche nach Antworten für eine zukunftsfähige Arbeitswelt, die auch Gesundheit, Beschäftigungsfähigkeit, Anerkennung und soziale Gerechtigkeit mit bedenkt und beinhaltet, zu gelangen. Ein besonderer Dank geht an Jörg Fellermann (Geschäftsführer der DGSv), der all diese Projekte maßgeblich unte...