Moralisierung des Rechts

Kontinuitäten und Diskontinuitäten nationalsozialistischer Normativität, Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593501680
Sprache: Deutsch
Umfang: 246 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 21.3 x 14 cm
Auflage: 1. Auflage 2014
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Nationalsozialistische Rechtstheorien hoben den Unterschied zwischen Moral und Sittlichkeit auf der einen Seite und Recht auf der anderen Seite so weit wie möglich auf. In den 'Nationalsozialistischen Leitsätzen für ein neues Strafrecht' von 1938 formulierte Hans Frank, Hitlers Rechtsanwalt und einer der führenden Vertreter einer 'nationalsozialistischen Rechtswissenschaft', kurz und bündig: 'Deutsches Rechtsgefühl und deutsches Sittlichkeitsempfinden sind eins.' Was bedeutete dieses 'Ideal' der Einschmelzung des Unterschieds von Sittlichkeit, Moral und Recht für die nationalsozialistische Rechtstheorie und Rechtspraxis? Was besagte sie für eine Analyse nationalsozialistischer Vorstellungen von 'Ethik' und 'Moral'? Und wie weit bestimmte das Fortwirken nationalsozialistischer Moral noch die Rechtsauffassungen der frühen Bundesrepublik?

Autorenportrait

InhaltsangabeInhalt Vorwort 7 Herlinde Pauer-Studer 'Jenseits vom Chaos und von Interessenkonflikten' Aspekte der Rechtsentwicklung im NS-System der 1930er Jahre 11 Martin Becker 'Arbeit' und 'Gemeinschaft' im NS-Recht und im Recht der frühen Bundesrepublik 35 Thomas Henne Ehe und Homosexualität im bundesdeutschen Rechtssystem der 1950er Jahre: Normen, Werte, Grundgesetz - und ein Film 63 Joachim Vogel Fortwirkende Einflüsse aus national­sozialistischer Zeit auf das Strafrecht als Ausdruck übergreifender Entwicklungs­linien im Strafrecht des 20. Jahrhunderts 87 David Johst Die Entdeckung des Unrechtsstaates 127 Tino Plümecke Ordnen, werten, hierarchisieren Der sozial dichte Begriff 'Rasse' und seine Gebrauchsweisen im Nationalsozialismus 147 Werner Konitzer Kontinuitäten und Brüche nationalsozialistischer Moralvorstellungen am Beispiel von Otto Friedrich Bollnows 'Einfacher Sittlichkeit' 167 Michael Schefczyk 'Als Deutscher unter Deutschen': Karl Jaspers' Die Schuldfrage 189 Nicolas Berg Selbstentnazifizierung einer Komplizenschaft Die Vorgeschichte des SS-Bekenntnisses von Hans Egon Holthusen und seiner Kontroverse mit Jean Améry 215 Autorinnen und Autoren 243

Leseprobe

Vorwort Nationalsozialistische Rechtstheoretiker hatten es sich zum Ziel gesetzt, den Unterschied zwischen Recht und Moral so weit wie möglich aufzuheben. Das bedeutete, "ethische Konzepte wie sittliche Pflicht, Anständigkeit, Ehre und Treue auch als Rechtsbegriffe zu verstehen". Auf die Bedeutung dieser Tatsache für die Veränderung des Rechts im Nationalsozialismus haben Rechtshistoriker und Rechtstheoretiker seit den 1970er Jahren wiederholt hingewiesen. Sie rückt jedoch in ein neues Licht, wenn man sie nicht mehr allein von der Seite des Rechts, sondern auch von der Seite der Moral her betrachtet. Moralische Einstellungen werden auf vielfältige Weise kommuniziert: in Liedern, Sinnsprüchen, Erzählungen, Filmen, Gedichten, in wechselseitigen Ermahnungen, lobenden und tadelnden Äußerungen. Philosophen und Theologen formulieren sie aus, systematisieren sie und versuchen sie zu begründen. Weil es sich um Überzeugungen handelt, die jeder einzelne Mensch für sich hegt, kann er sie auch in Absetzung von den Überzeugungen der Menschen in seiner sozialen Umgebung entwickeln. Sie sind in diesem Sinne unhintergehbar individuell. Dadurch unterscheiden sie sich vom Recht, für das charakteristisch ist, dass es sich um ein institutionalisiertes Normensystem handelt. Jedoch ist Moral nicht gänzlich subjektiv. Moralische Gefühle und Urteile haben auch eine wesentliche intersubjektive Dimension. Wer sich über etwas, was er für ein Unrecht hält, empört, erwartet gewöhnlich, dass andere seine Empörung teilen oder zumindest billigen. Ob Handlungen Empörung auslösen oder nicht, ist auch ein Symptom dafür, wie weit bestimmte Überzeugungen geteilt werden. Betrachtet man die Entwicklung von moralischen Einstellungen in den ersten Jahren des nationalsozialistischen Regimes, so stößt man auf eine Reihe von Veranstaltungen, bei denen solche moralischen Gefühle öffentlich inszeniert wurden: Formen moralisch-politischer Vergemeinschaftung wie Totengedenken oder Sonnenwendfeiern. Am markantesten sind aber die verschiedenen Formen öffentlicher Anprangerung, Zurschaustellung und Demütigung, die für die ersten Jahre des Regimes emblematisch geworden sind. Das gilt vor allem für die in der historischen Forschung eingehend untersuchten "Rassenschande"-Pogrome. Diese Pogrome waren keine spontanen Ausbrüche von Massengewalt. Sie hatten quasi-institutionellen Charakter. Insofern wirken sie wie eine zynische Mischung von Recht und Moral. Darin deutet sich an, dass es ein Bestreben gab, die propagierte Volksmoral als eine Art Quasi-Recht zu institutionalisieren. Die Pogrome sind ein Indiz dafür, dass die Öffnung des Rechts zu einer "Volksmoral" ein Vorgang war, der nicht allein von den Folgen, die er für das Rechtssystem hatte, her zu erfassen ist. In der Verzahnung von Recht und Moral vollzog sich eine Entwicklung, die beide Systeme, Recht und Moral, gleichermaßen betraf und die wohl nur in ihrer wechselseitigen Betrachtung angemessen verstanden werden kann. Die Erforschung von moralischen Einstellungen während des Nationalsozialismus und die Frage nach den Kontinuitäten und Brüchen in der Tradierung dieser Einstellungen ist seit mehreren Jahren ein Schwerpunkt in der Arbeit des Fritz Bauer Instituts. Auf einem von mehreren Workshops zu diesem umfassenden Themengebiet wurde die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral diskutiert. Dort entstand auch der Plan, in einer Vortragsreihe, an der vor allem Juristen und Philosophen beteiligt sein sollten, einzelne Themenbereiche des gesamten Komplexes jeweils alternierend aus der Sicht der Moralphilosophie und aus der Sicht der Rechtsgeschichte bzw. Rechtstheorie zu beleuchten. Dabei sollte zum einen die Frage nach der Verbindung von Recht und Moral, zum anderen die Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Zeit nach 1945 im Zentrum stehen. Die meisten der hier versammelten Beiträge sind im Rahmen dieser Vortragsreihe entstanden. Schon bei der Vorbereitung der Reihe zeigte es sich, dass die Idee einer engen Verzahnung der Themenstellungen zwischen Recht und Moral, wie sie für die Erforschung der Sache wohl wünschenswert wäre, noch lange nicht angemessen wird realisiert werden können. Ein wichtiger Grund dafür liegt in der unterschiedlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Wissenschaftsbereichen Jurisprudenz und Philosophie. Während in der Rechtsgeschichte einzelne Bereiche, etwa die Geschichte des Strafrechts, bereits gut erforscht sind, gibt es für die Geschichte der Moralphilosophie bisher kaum vergleichbare Ansätze. Ebenso fehlt auf Seiten der Moralphilosophie eine systematische Diskussion und Analyse von zentralen Begriffen des Nationalsozialismus, wie etwa dem Begriff der "Rasse" oder dem der "Gemeinschaft". Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil in der Gegenwart das moralisch-politische Selbstverständnis sehr häufig in Abgrenzung zum Nationalsozialismus formuliert wird. Vielleicht kann das Jahrbuch hier den Anstoß zu einer weiteren Diskussion geben. Die Vortragsreihe wie auch die Konzeption des Bandes sind in enger Zusammenarbeit mit Lena Foljanty entwickelt worden. Ohne die vielen Diskussionen und Anstöße von ihr wäre beides so nicht zustande gekommen. Ich möchte mich an dieser Stelle bei ihr für die sehr intensive und interessante Zusammenarbeit bedanken. Der Vortrag über die Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, den Joachim Vogel im Rahmen der Reihe hielt, ist wohl allen, die ihn gehört haben, wegen seiner brillanten, außerordentlich sachkundigen und allgemeinverständlichen Darstellung besonders in Erinnerung geblieben. Beim anschließenden Abendessen lernte ich Joachim Vogel als einen humorvollen und vor allem herzensguten Menschen kennen. Professor Vogel konnte den Vortragstext, in dem er auch auf die Forschungen des Fritz Bauer Instituts zum Problem der Moral im Nationalsozialismus näher eingegangen war, nicht mehr zu einem eigenen Beitrag umarbeiten. Er starb am 17. August 2013 bei einem tragischen Unfall. Mit Genehmigung des Berliner Wissenschafts-Verlages drucken wir hier Auszüge aus seiner 2004 erschienenen Studie Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht ab. Die Untersuchung ist aus dem berühmten Vortrag hervorgegangen, den Joachim Vogel 2003 auf der Bayreuther Tagung der deutschen Strafrechtslehrer gehalten hat Frankfurt am Main, August 2014 Werner Konitzer "Jenseits vom Chaos und von Interessenkonflikten" Aspekte der Rechtsentwicklung im NS-System der 1930er Jahre Herlinde Pauer-Studer Bereits 1933 passten führende Juristen ihre Staats- und Rechtslehren der neuen politischen Situation und der NS-Ideologie an. Ihre ausgefeilten Begründungen der neuen Staatsform beschönigten die schon im Februar und März 1933 klar erkennbaren Überschreitungen etablierter normativer Standards durch das NS-Regime. Die Aura und Autorität des Faches wurde für eine professionelle Normalisierung des politischen und rechtlichen Ausnahmezustandes eingesetzt. Die Juristen lieferten den theoretischen Beitrag zu den normativen Grundlagen des NS-Systems und trugen zur relativ hohen inneren Stabilität und Akzeptanz des Regimes in der Phase bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bei. Die Argumente der NS-Rechtstheoretiker zielten darauf ab, eine normative Logik in der Entwicklung von der Weimarer Republik zur nationalsozialistischen Herrschaft aufzuzeigen. Die nationalsozialistische Revolution galt ihnen als historisch zwangsläufiges Ergebnis der angeblich politisch unhaltbaren Zustände in der Weimarer Republik. Der Übergang zum Nationalsozialismus und zum Führerstaat wurde mit plakativen Überlegungen untermauert, die metaphysisch konnotierte Ideen und Formeln ins Spiel brachten. Eine besondere Funktion kam dabei der ideologischen Moralisierung des Rechts zu. Das Ziel des folgenden Beitrages ist es, einige dieser normativen Verschiebungen näher zu beleuchten. Gegen den liberal-bürgerlichen Rechtsstaat und die liberale Freiheitskonzeption Die Begeisterung der regime...

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