Schwarz-Weiß als Evidenz

With black and white you can keep more of a distance, Schauplätze der Evidenz 1

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593503028
Sprache: Deutsch
Umfang: 296 S.
Format (T/L/B): 2.7 x 21.4 x 14.2 cm
Auflage: 1. Auflage 2015
Einband: Paperback

Beschreibung

Schwarz-Weiß-Fotografien können den Betrachter wie ein Blitz treffen, fand Roland Barthes, während ihn die 'Schminke' der Farbfotos kalt ließ. Schwarz-Weiß hält sich nach wie vor hartnäckig in der Fotografie, in Film und Grafik - ihm wird Authentizität zugeschrieben. Sind der ästhetische Reiz und die Strahlkraft der Evidenz, die von Schwarz-Weiß ausgehen, ein Merkmal der Wahrnehmungswelt des 20. Jahrhunderts? Und ein Grund, warum uns die farblich unendlich variablen Erscheinungen des Lebensraums trügerisch vorkommen? In diesem Band untersuchen bekannte Kunst- und Medienwissenschaftler die Farben der frühen Fotografie, das Ordnungsschema des Schachbretts, Architekturfotografien des Bauhauses, Hell-Dunkel in Grafik und Malerei, die Farbphobie von Kunsthistorikern, die Nachkolorierung von Dokumentarfilmen und den Reiz des Asphalts. Mit Beiträgen von Hartmut Böhme, Petra Bopp, Werner Busch, Michael Diers, Peter Geimer, Bettina Gockel, Romy Golan, Andreas Haus, Helmut Lethen, Kathrin Rottmann, Ernst Strouhal, Monika Wagner und Helen Westgeest.

Autorenportrait

Monika Wagner lehrte 1986 bis 2009 Kunstgeschichte an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Kunst der Moderne, der Geschichte und Theorie der Wahrnehmung und der Ikonografie des Materials. Helmut Lethen ist Direktor des IFK Wien und hat dort 2007 den Schwerpunkt 'Kulturen der Evidenz' ins Leben gerufen. Seine Gebiete sind Historische Avantgarden, philosophische Anthropologie und Mediengeschichte.

Leseprobe

Von der Erkenntniskraft der Unterscheidung und dem Verlust der Oberflächentextur. Eine Einleitung Helmut Lethen Den Anstoß für das Unternehmen Schwarz-Weiß als Evidenz gab eine überraschende Beobachtung Monika Wagners: Die Besichtigung von Mies van der Rohes Haus Tugendhat in Brünn nach seiner Restaurierung im Jahre 2012 habe ihre Vorstellung vom Neuen Bauen als einer Architektur strahlend weißer Kuben korrigiert. "Wer Wände mit einer puristisch glatten Oberfläche in sterilem Weiß erwartet hat, staunt über die optische Brillanz der Oberflächentönung. Die Haut des Hauses wies, das brachte die denkmalpflegerische Untersuchung und Rekonstruktion zu Tage, winzige gelbliche, bräunliche und rötliche Sandkörnchen auf, deren Erhebungen und farbliche Nuancen die Wand jetzt wieder beleben. Wo die Sandkörnchen an der Oberfläche des Putzes liegen oder durch Abrieb sichtbar werden, reflektieren sie das Licht der Sonne. Durch die Veränderung des Lichts ebenso wie durch die Bewegung des Betrachters/Bewohners wird der Eindruck einer lebendigen Haut des Gebäudes erzeugt." Hatten erst Schwarz-Weiß-Fotografien das Haus Tugendhat zur Inkunabel moderner Architektur gemacht? Die minutiöse Rekonstruktion entdeckte die diskrete Buntheit dieses Bauwerks wieder, die in unserem maßgeblich fotografisch vermittelten Gedächtnis keinen Platz gefunden hatte. Die Überraschung wurde zur Initialzündung unseres Projekts. Die Evidenz der zirkulierenden schwarz-weißen Bilder des Neuen Bauens in Presse und Katalogen schien schlagend zu sein. Sie wurde im Fall der Villa Tugendhat mit dem Verlust an differenzierten Informationen zur Oberflächenstruktur des Gebäudes erkauft. Vielleicht ist der "Edelputz" des Tugendhat-Hauses ein Sonderfall. Im Normalfall diente, so Andreas Haus in seinem Beitrag (S. 183), die starke Linien- und Kantenbetonung der Schwarz-Weiß-Abbildungen dem Konzept des Neuen Bauens. Haben die Architekten des Neuen Bauens in der Schwarz-Weiß-Fotografie ihr ideales Medium für die lichtglänzenden Kuben des Neuen Bauens gefunden - auch wenn die Wirklichkeit der Baukörper dieser Idee nie perfekt entsprach? War die Reduktion der Farben auf die Unbuntheit des Schwarz-Weiß eine Geste der Abwehr der "Netzhautmalerei der Impressionisten" (Marcel Duchamp) (vgl. den Beitrag von Ernst Strouhal, S. 49)? Ist der ästhetische Reiz des Schwarz-Weißen verwoben in utopische oder sozialreformerische Verhaltenslehren der Distanz in den 1920er Jahren? Erleichtern Schwarz-Weiß-Abbildungen den Zugang zu einem krafterfüllten Raum der Abstraktion (vgl. den Beitrag von Hartmut Böhme, S. 24)? Kurz: Überblendete die medial hergestellte Evidenz des Schwarz-Weißen die Wirklichkeit? Mit diesen Fragen begann das Abenteuer einer Konferenz am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien (22. bis 24. Mai 2013), deren Vorträge nun als Essays, erweitert um Beiträge von Werner Busch und Ingo Zechner, in diesem Buch vorliegen. SchwarzWeiß, ein Kern der Ästhetik des 20. Jahrhunderts Der Siegeslauf der Ästhetik des Schwarz-Weißen begann zu einem Zeitpunkt, als die Technologie der Farbfotografie bereits erstaunliche Resultate vorzuweisen hatte. Die Herrschaft des Schwarz-Weißen ist im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts folglich nicht nur auf technische Defizite zurückzuführen. Bettina Gockel weist darauf hin, dass Fotos in brillantem Schwarz-Weiß im 19. Jahrhundert schwerlich aufzufinden sind. Daguerreotypien schillerten noch in Bildtönen von Grau bis Blaugrau/-violett oder auch goldfarben. Unter dem Einfluss des Piktoralismus liebte man im 19. Jahrhundert den Schimmer der Fotografien in zartem Blaugrau, bräunlichem Rot und erdigen Gelbtönen (S. 161-164). Selbst der Asphalt glänzte, wie Kathrin Rottmann entdeckt, in purem Schwarz erst, als ihm Grafit untergemischt wurde; dann konnte er in Kombination mit der grellen Helligkeit elektrischer Bogenlampen ein Faktor der Großstadtästhetik des "Asphalt Jungles" werden (S. 75). Musste der Reiz des Schwarz-Weißen, wie Andreas Haus annimmt, erst in der harten Schule der Wahrnehmung in den 1920er und 30er Jahren gelernt werden? Der Reiz scheint nach dem Ersten Weltkrieg direkt mit Ideen einer zivilen Gesellschaft verbunden; mit Praktiken moderner Hygiene, sozialreformerischen Utopien und Verhaltenslehren der Distanz. In welchem Ausmaß Schwarz-Weiß zum operativen Einsatz der Fotografie gehörte, demonstriert der Beitrag von Romy Golan. Schwarz-weiße photomurals signalisierten in den 1920er und 30er Jahren militantes Engagement. Das Schwarz reihte Picassos Guernica nicht nur in die Maltradition von El Greco, Velásquez und Goya ein, sondern bekundete auch seine Solidarität mit den Akteuren der photomurals des spanischen Pavillons auf der Weltausstellung 1937. Dass die Polarität von Schwarz-Weiß und Farbe auch in der kulturellen Konstruktion des "Männlichen" und "Weiblichen" eine Rolle spielte, sei hier kurz an einem Beispiel erläutert: Helene Hessel (bekannt als Vorbild der Geliebten in Truffauts Film Jules et Jim) ruft in der Zeitschrift Das Tage-Buch vom 8. Januar 1921 der modernen Frau zu "Schafft euren Kräften Spielraum" - womöglich in einer Umwelt, die sich der Farbe verweigert: Gebt der neuen Frau "vor allem ein eigenes Badezimmer mit viel Duschen und strömendem Wasser. Laßt sie Hygiene lernen von einer Hebamme oder Masseuse und auf ihre Beine achten, laßt sie sich um die Gesundheit ihres Geschlechts kümmern. Föhnapparate und flüssige Seifen, grelle Elektrizität, damit sie ihren Körper kennen und benutzen lernt. Laßt sie Bilder sehen von nackten Göttern, dass sie sich vergleichen lernt. Noch besser Plastiken. Gebt ihr einen großen Balkon für ihre Luft- und Sonnenbäder." Offensichtlich stehen Hessel in der Tradition Winckelmanns schneeweiße Götterstatuen vor Augen. So kommt sie zu ihrer kühnsten Forderung: "wenn Ihr es wagt, so verzichtet auf alles Farbige und macht Euch eine Nonnenzelle, in der ihr Eure Schönheit, Eure Jugend, Euren Körper wissenschaftlich und genau behandelt." Verhaltensunsicherheiten, die in Krieg und Inflation entstanden, fördern die Suche nach neuen Ordnungsschemata. Die Aufspaltung von Körper und Psyche, die Hessel in ihrer Badeszene vornimmt, mag zur Suchbewegung der Selbstbestimmung gehören. Descartes, dem in Deutschland gern die Spaltung von Körper und Psyche vorgehalten wird, ist im weißgekachelten Badezimmer der mondänen Frau gelandet, die ihren unbehüteten Körper in Reinigungsritualen von den Finsternissen paternalistischer Erbschaften befreit. Schattenrisse der Erkenntnis Alle Farben in Natur (und Kunst), lehrt Ishmael in Herman Melvilles Moby Dick, sind nur "abgefeimte Täuschungen" (subtile deceits), "rätselhafte Schminke" (mystical cosmetics) über dem "inwendigen Beinhaus" (the charnel-house within) (vgl. den Beitrag von Hartmut Böhme, S. 27). Bis zur Hellen Kammer von Roland Barthes kann man die negative Haltung zur Farbe als Schminke verfolgen (vgl. den Beitrag von Helmut Lethen, S. 148). Die Skepsis gegenüber dem Schillern der Farbe hat einen antiken Ursprung. Eine besondere Form dieses Topos findet sich bei Lukrez. Er bindet in De rerum naturae (geschrieben im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung) die Erkenntnis an die zu ertastenden Umrissformen der Dinge und nicht an die Farben ihrer Oberflächen: "Weil nämlich die Blindgeborenen (caecigeni), die niemals das Leuchten der Sonne erblickten, dennoch durch Berührung (tactus) die Körper (corpora) kennen, die seit Anfang der Zeit mit keiner Farbe verbunden sind, kann unser Geist erkennen, dass sich die Körper - ohne von farbiger Schminke beschmiert zu sein - zur Erkenntnis wenden. Außerdem, wenn wir selbst etwas in blinder Dunkelheit (tenebrae caecae) berühren (tangere), fühlen wir es, ohne dass es in Farbe getaucht ist." Bei Lukrez bleibt die Erkenntnis der Dinge an das Ertasten ihrer Konturen gebunden. Die Farbigkeit ihrer Oberflächen wird als erkenntnisverhindernde Kosmetik abgewehrt. Peter Geimer spielt diese...

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