Die Welt beobachten

Praktiken des Vergleichens

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593504711
Sprache: Deutsch
Umfang: 382 S.
Format (T/L/B): 2.5 x 21.5 x 14.2 cm
Auflage: 1. Auflage 2015
Einband: Paperback

Beschreibung

Von der Entdeckung und Erforschung der einen einzigen Welt am Beginn der europäischen Moderne bis zur statistischen Vermessung und Vereinheitlichung von Wirtschafts- und Universitätssystemen: Die Praxis des Vergleichens hat sich in zunehmendem Maße als vorherrschendes Instrument zur Erfahrung und Herstellung von Weltwissen und -bewusstsein etabliert. Dieser Band versammelt Grundlagentexte zu einer bislang kaum ausgearbeiteten Theorie und Praxis des Vergleichens und erprobt die Geschichtsschreibung einer durch Vergleiche entstandenen, umkämpften Weltgesellschaft: am Beispiel der Weltreiseliteratur, der im 19. Jahrhundert erstmals zu beobachtenden Weltkriege und der Herausbildung des globalen Kapitalismus.

Autorenportrait

Angelika Epple ist Professorin für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Bielefeld. Walter Erhart ist dort Professor für Germanistische Literaturwissenschaft.

Leseprobe

Die Welt beobachten - Praktiken des Vergleichens Angelika Epple/Walter Erhart Auf seiner zweiten Südseereise (1772-1775) wurde Kapitän James Cook nicht nur vom preußischen Naturforscher Johann Reinhold Forster und dessen siebzehnjährigem Sohn Georg Forster begleitet, sondern auch von dem Maler William Hodges. Die Britische Admiralität hatte das Unter-nehmen finanziert, und Hodges sollte die während der Reise angefertigten Skizzen nach seiner Rückkehr zu Ölgemälden für eine Ausstellung in der Londoner Royal Academy ausarbeiten. Die dazugehörigen Stiche waren für die Bebilderung des offiziellen Reiseberichts vorgesehen. Als die großen weltumspannenden Forschungs- und Entdeckungsreisen des 18. Jahrhunderts dem europäischen Publikum präsentiert werden sollten, kam den Schriftstellern und Malern eine ganz besondere Rolle zu: Ihnen oblag es, die auf den Reisen erstmals beobachtete außereuropäische Welt detailliert darzustellen - als greifbar gemachtes Erlebnis für die Zuhausegebliebenen, als Einladung, die unbekannte Welt so zu sehen, wie sie wirklich war. Hodges' Stiche und Ölgemälde hatten eine prägende Wirkung auf die europäische Imagination des Pazifiks, insbesondere jenes paradiesischen Ortes, der von dem französischen Weltreisenden Louis-Antoine de Bou-gainville 1768 entdeckt worden war und im 20. Jahrhundert noch in den Gemälden Paul Gaugins seine fortgesetzte Faszination entfaltete: Tahiti. Im Jahr 1776 beendete Hodges die Arbeit an dem unter dem Kurztitel "Tahiti Revisited" bekannt gewordenen Gemälde "A View taken in the bay of Oaite Peha [Vaitepiha] Otaheite [Tahiti]". Den von weichem Son-nenlicht beschienenen Frauen im Fluss hat er dabei noch eine als Bildsäule drapierte Totemfigur hinzugefügt, die, neben den Badenden postiert, an griechisch-antike Statuen erinnert. Hodges erzeugte damit den Eindruck einer vom europäischen Kontakt noch unberührten Natur sowie einer gänzlich fremden Kultur, zugleich stilisierte er die Szene als einen locus amoenus, der in einer vertrauten Bildersprache Anklänge an die Antike mit der europäisch-männlichen Sehnsucht nach verführerischen, sich wie Nymphen darbietenden weiblichen Naturwesen kombinierte. Der dargestellte Ort, immerhin einer der betriebsamen Hauptanlegeplätze der europäischen Ankömmlinge, zeigt sich auf dem Gemälde von allen Spuren der Seefahrt und des Kulturkontakts gereinigt, gleichzeitig aber wurde die auf solche Weise als ursprünglich vorgeführte Welt einem vorgängigen interpretativen Rahmen eingefügt: Erkennbar ist eine Bucht auf Tahiti, aber auch eine europäisch-antike Phantasie; die dargestellten Südseefrauen sind tätowiert, aber hellhäutig; die Landschaft ist pazifisch, aber gerahmt von durchaus alpin anmutenden Bergen. Die Welt beobachten heißt hier eben auch, sie der europäischen Vorstellungsart anzugleichen, sie dadurch erst vergleichbar zu machen. Auf diese Weise wird das von Hodges präsentierte Wissen über die noch unbekannte südpazifische Welt mit vorgefertigten (Vergleichs-)Maßstäben versehen, die einerseits eine neue Sicht auf die europäischen Sehnsüchte eröffneten, andererseits aber auch die Insel Tahiti bereits im Moment ihrer Entdeckung (um-)interpretierten. Das Vergleichen des Fremden, Anderen, Neuen, so machen die Bei-spiele deutlich, orientiert sich an bekannten Mustern, wiederholt, variiert oder transformiert sie. Es ist dadurch eng mit dem je spezifischen histori-schen Kontext verbunden, innerhalb dessen verglichen wird. Das Verglei-chen ist keine aus sich zu bestimmende, rein individuelle Tätigkeit, viel-mehr ist es eingebettet in soziale Praktiken, die bestimmte Vergleiche nahe legen und andere verhindern. Die Beispiele zeigen nicht nur die prägende Wirkung vorgängiger Praktiken, sondern sie zeigen auch, wie die Beteiligten die Praktiken des Vergleichens selbst verändern, indem sie neue Arten und Weisen des Vergleichens erproben. Dabei können ganz neue Vergleichsgegenstände erzeugt werden oder bereits bekannte in neuem Licht erscheinen. Der schöpferischen Imagination kommt dabei eine wichtige Rolle zu. So beschrieb Bougainville Tahiti kurz zuvor in seiner Voyage autour du monde (1771) als eine Insel, auf der die Freimütigkeit des Goldenen Zeitalters ("la franchise de l'âge d'or") herrsche. Kein Wunder also, dass in seinem Reisebericht kurz darauf ein junges, sich entblößendes Mädchen in den Augen aller wie eine Venus erschien, die sich dem phrygischen Hirten zeigte ("et parut aux yeux de tous comme Vénus se fit voir au berger phrygien"). Kaum betraten die französischen Welteroberer die Küste Tahitis - so führt es Bougainville zumindest vor -, bot die fremde Welt sich an, nicht nur wahrgenommen, sondern auch verglichen zu werden: Ein Inselbewohner habe ein anakreontisches Lied gesungen, "une chanson, sans dout anacréontique", die "charmante" Szene sei des Pinsels eines Boucher würdig" gewesen ("scène charmante et digne du pinceau de Boucer"), und Bougainville habe sich geradewegs in den Garten Eden zurückversetzt gefühlt ("Je me croyais transporté dans le jardin d'Eden"). Folgerichtig erhielt die Insel zunächst - wie in einem Gemälde des französischen Rokoko-Malers François Boucher - den antikischen Namen "Nouvelle-Cythère". Weltreisende erkundeten Vergleichshorizonte, die Welt beobachten hieß sie zu vergleichen: Selbst die scheinbar authentische Wiedergabe des Gesehenen auf den Bildern von William Hodges war nach den Maßgaben europäischer Vergleichspraktiken geformt, verändert und stilisiert. Noch expliziter sind die diskursiven Vergleichspraktiken in den korrespon-dierenden Darstellungen der Naturforscher und Schriftsteller. Der junge Georg Forster hatte in seinem nach der Expedition in englischer und deutscher Sprache veröffentlichten Reisebericht die von Hodges insze-nierte Bucht in folgender Manier beschrieben: Die um das Schiff herum-schwimmenden "Weibsbilder" boten sich als die "neuen Mätressen" der Matrosen an, die Seefahrer waren "bezaubert" beim "Anblick ver-schiedner solcher Nymphen", angesichts ihrer Schwimmkünste hätte man die Inselbewohner "fast für Amphibia halten" können. Auf unmerkliche Weise unterlegt Forster seine Tahiti-Darstellung mit einem immer dichter werdenden Netz europäischer Referenzen. Die "Frauenspersonen", die - an einer anderen Stelle, in einer anderen Bucht - "wie Amphibia im Wasser herumgaukelten", wecken Assoziationen nicht nur in Bezug auf die antike Mythologie, auf Doppelwesen, halb Fisch, halb Landtier, auf Fabelwesen und Elementargeister, sie verweisen ebenso auf die Metropolen der europäischen Gegenwart, an die französischen "Mätressen" und die in England "nymphs" genannten Prostituierten. So von Verführungskunst - und von Vergleichen - gereizt, kann es Forster den Seeleuten nicht verübeln, wenn sie "sich den guten Willen dieser Schönen zu Nutze machten". Die zunächst noch als Wesen der antiken Mythologie und als zauberhaft beschriebenen Frauen wandeln sich nur wenige Zeilen später in Mitglieder einer Gesellschaftsschicht, die sexuell auszubeuten für Forster und die Seemänner kein Problem darstellt: "Ein Hemd, ein Stück Zeug, ein Paar Nägel waren zuweilen hinreichende Lockungen für die Dirnen, sich ohne Schaam preis zu geben." (Welt)Reisebeschreibungen und die ihnen häufig beigegebenen Illustrationen präsentierten die fremde neue Welt, ihr Erfolg gründete in nicht unwesentlichem Maße auf den von den Autoren angestrengten und von den Leserinnen und Lesern nachvollzogenen Vergleichen mit der bekannten, der alten und der vertrauten Welt. Vergleiche und Vergleichen sind dabei analytisch von einander zu unterscheiden, auch wenn dies sprachlich häufig schwierig ist. Vergleiche werden durch die komparative Tätigkeit von Akteuren, mithin durch die Praktiken des Vergleichens, durch Wiederholungen und leichte Verschiebungen verfestigt, sie fügen sich häufig zu Stereotypen, ermöglichen Klassifikationen und erleichtern andere Zuschreibungen. Die Praxis des Vergleichens war die eigentliche wissenschaftliche Tätigkeit a...