Beschreibung
Vom Zinnsoldat zu Call of Duty Kriegsspiele sind Echo wie Lautsprecher von Kriegsbegeisterung und -hetze, sie erzählen ein dunkles, bislang kaum bekanntes Kapitel der materiellen Kultur: Ritterburgen und Belagerungsspiele, Holzschwerter und Gewehrattrappen bedienten seit Jahrhunderten puerile Phantasien, ebenso die unzähligen Jeux de la Guerre, Games of Bombardement und frühen Kriegssimulationen, die in der Offizierausbildung zum Einsatz kamen. Ähnlich wie Literatur, Plakat und Film doch auf sehr spezielle Weise dienten auch Spiele politischer Propaganda: Je näher der Krieg rückte, desto mehr wurde in den Kinderzimmern aufgerüstet, das Publikum auf Vaterlandstreue eingeschworen. In diesem Band widmen sich international bekannte Spieleforscher dem Verhältnis von Kriegspropaganda und Spiel. Sie analysieren militärische Gesellschaftsspiele von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart und machen - in einem umfangreichen Bildteil - seltene Spiele und ihre Regeln erstmals zugänglich. Angesichts zunehmender Virtualisierung und Gamifizierung von Krieg erscheint das Thema heute aktueller denn je. Mit Beiträgen von Franz Ablinger, Philipp Bojahr, Gejus van Diggele, Mathias Fuchs, Stephan Günzel, Manfred J. Holler, Margarete Jahrmann, Larisa Koèubej, Helmut Lethen, Thomas Macho, Lydia Mischkulnig, Rolf F. Nohr, Ulrich Schädler, Liddy Scheffknecht, Adrian Seville, Ernst Strouhal und David Tartakover.
Autorenportrait
Ernst Strouhal, ist außerordentlicher Professor an der Universität für angewandte Kunst Wien. Er ist Autor, Publizist und Kurator von Ausstellungen. 2010 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik. Zuletzt erschien von ihm 'Die Welt im Spiel. Atlas der spielbaren Landkarten' (2015).
Leseprobe
Einleitung Ernst Strouhal I Der Krieg, der Vater aller Dinge, gebiert Monstren - darunter Menschen und Spiele. Von allen grauenvollen Figuren im Pandämonium von Karl Kraus' Letzten Tagen der Menschheit ist der Volksschullehrer Zehetbauer wohl eine der grauenvollsten. Im ersten Akt empfiehlt der kriegsbegeisterte Lehrer den Kindern, sich "zur Belohnung für Fleiß und gute Sitten" das Spiel Russentod oder Wir spielen Weltkrieg, ein Rollenspielbuch zum Vorlesen, zu wünschen. Nichts ist erfunden: 1914 war tatsächlich der Band Wir spielen Weltkrieg! Ein zeitgemäßes Bilderbuch für unsere Kleinen von Ernst Kutzer und Armin Brunner in Wien erschienen. Eine kleine Kinderschar und der zum Kriegshund avancierte Caro ziehen unerschrocken in den Krieg, das Kinderzimmer verwandelt sich Bild für Bild in ein Schlachtfeld, eine Nähmaschine wird zum Maschinengewehr. Im selben Jahr hatte der Spieleverlag Josef Scholz in Mainz Feuernde Mörserbatterie auf den Markt gebracht. Das "zeitgemäße Gesellschaftsspiel für Jung und Alt" war eine Feierstunde der Artillerie: Auf dem Spielbrett waren Kanonen in Aktion, die eine Festung unter Beschuss nehmen und zerstören sollen. Je näher der Krieg rückte, desto stärker wurde in den Kinderzimmern aufgerüstet. Zusehends wurde das Publikum auf Vaterlandstreue eingeschworen, Feindbilder wurden in den Erzählungen der Gesellschaftsspiele konstruiert und durch karikatureske Grafiken eingeprägt. Die politische Indienstnahme der Spielwelten betraf alle Genres des Spiels. Aufstell- und Verwandlungsspiele ästhetisierten das Kriegsgeschehen, Brettspiele beförderten die soldatischen Tugenden und zeichneten auf ihren Spielplänen die politischen Landkarten neu, Puzzles und Kartenspiele belehrten über die nun geltende Auffassung von Geschichte und informierten auf ihren Bildtableaus über die neuen Helden und die aktuell Verbündeten. Auch die Firma Märklin passte ihr Sortiment zu Kriegsbeginn dem neuen Markt an: Die Spielwaren im Katalog für 1915 vermitteln detailliertes Wissen über das technisch superiore Waffenarsenal der Achsenmächte im Krieg zu Lande, in der Luft und zur See. Die Käufer und Käuferinnen konnten zwischen funktionstüchtigen Panzerzügen mit Uhrwerkbetrieb, Granatenwerfern im Liliputformat, Kriegsschiffen und armierten Zeppelinen wählen. Bellizistische Spiele dieser Art sind Echo wie Lautsprecher der Kriegsbegeisterung in Europa, sie erzählen ein dunkles, kaum bekanntes Kapitel aus der Faszinationsgeschichte des Krieges und aus der Geschichte der Spiele. Die Spielkultur evoziert nicht Kriegsbegeisterung, sondern bildet ein adäquates Überlaufgefäß für die bereits vorhandenen chauvinistischen Affekte. Bei der Gestaltung konnten die Verlage auf eine lange Tradition der Kriegsspiele zurückblicken. Die Zinnsoldaten und Ritterburgen, Holzschwerter und Gewehrattrappen bedienten seit Jahrhunderten puerile Fantasien, ebenso die unzähligen Brettspiele mit Kriegsthemen und frühe, sehr aufwendige Kriegssimulationen, die in der Offiziers- und Pagenausbildung des 18. Jahrhunderts Verwendung fanden und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vereinfachter Form auf den rasch expandierenden Spielemarkt drängten. Zumeist wird bei der Gestaltung von Kriegsspielen auf die Regelwerke vorhandener Spiele zurückgegriffen. Der Konflikt wird allerdings auf narrativer und visueller Ebene konkretisiert und aktualisiert: Fiktive Kampfhandlungen und Orte werden in konkrete Schlachten von realen Armeen an realen Orten umgearbeitet. Die symbolische, vieldeutige bzw. abstrakte Darstellung eines Konflikts weicht einer mimetisch möglichst perfekten Simulation realen Geschehens, das heterotopische Element, das allen Spielen innewohnt, schwindet zusehends zugunsten bloßer Abbildung. Die Verengung auf narrativer Ebene wird dabei nicht selten von einer bis ins Monströse gesteigerten Erweiterung der Topografie und der Grammatik des Spiels begleitet, sodass die Erzählung vom Krieg und seinen Spektakeln die Spielbarkeit und Dynamik des Spiels dominiert. II Kriegsspiele sind Kältekammern der Geselligkeit. Ihr Spiel erfordert ein durch und durch gepanzertes Ich des Spielers, das Spielbewusstsein ist dabei in hohem Maße ambivalent: Einerseits muss während des Spiels vergessen werden, dass gespielt wird (ansonsten wäre jedes Spiel bloß langweilig), andererseits muss jedes Spiel auch im Bewusstsein, dass bloß gespielt wird, erfolgen (ansonsten wäre das Spiel wie der Krieg selbst unerträglich, unendlich bösartig, unendlich grausam). Im "Zauberzirkel des Spiels" (Johan Huizinga) sind hemmende Über-Ich-Instanzen zwar außer Kraft gesetzt, allerdings bleibt das Spiel, und im Besonderen das Kriegsspiel, ein Raum voller bürokratischer Regeln, die keinen Ermessensspielraum lassen und denen sich der Spieler unterwirft. Unklar ist, inwieweit er spielt oder vom Spiel gespielt wird und ob sich die Lust am Kriegsspiel aus der spielerischen Aktivität oder Passivität speist. Die Darstellung des Kriegs im Spiel war und ist niemals neutral. Von Weickhmanns Königsspiel aus dem Jahr 1664 bis zu den Computerspielen der Gegenwart, vom indischen Tschaturanga bis zu Alice Becker-Hos und Guy Debords Kriegsspiel aus dem Jahr 1987 wird ein bestimmtes Konzept von Sachlichkeit und Kälte als (männliches bzw. pueriles) Ideal bürgerlicher Subjektivität eingeübt. Imaginiert und legitimiert wird via Spiel die Vorstellung eines spieltheoretisch idealen, "sauberen" Kriegs mit geometrisch exakten Bewegungen auf diskreten Feldern, mit rationalen Entscheidungen und bestimmbaren Zielen. Prima vista muten Kriegsspiele daher als Modelle oder spielerische Inszenierungen der Schriften von Carl von Clausewitz (1780-1831) zum Krieg an. Krieg erscheint bei Clausewitz allerdings nicht als rationales Spiel mit vollständiger Information, im Krieg nehmen, so Clausewitz, "mit dem Zufall das Ungefähr und mit ihm das Glück einen großen Platz ein". Krieg ist bei Clausewitz Kontingenzmanagement, eher ein Karten- als ein Schachspiel, der Ausgang des Spiels ist kaum planbar. Das Spektrum der Kriegsspiele ist wie das Spektrum der Spiele selbst sehr breit. Jede Arbeit über Spiele steht daher vor der schlechten Wahl der Engführung des Begriffs, die seine Verbindung zur Kultur des Festes und zum Sport vermissen lässt, oder der Verwendung eines weiten Spielbegriffs, der allerdings leicht Gefahr läuft, beliebig zu werden. In seinem Klassiker Die Spiele und die Menschen hat der französische Philosoph und Schriftsteller Roger Caillois vier Grundtypen des Spiels unterschieden: Agon (der Wettkampf, das Spiel der Konkurrenz), Alea (das Glücksspiel, das Spiel mit dem Schicksal), Mimikry (das Theater, das Spiel mit Masken und Identitäten) und Ilinx (die Spiele des Körpers und des Rausches). In diesem Band wurde der Schwerpunkt auf agonale Gesellschaftsspiele und auf die Beschreibung des Verhältnisses von Agonalität und Krieg, Agon und Ares, gelegt. Es wurde versucht, Einblick in das wenig bekannte, doch materialreiche Archiv der Kriegsspiele zu nehmen. Die Engführung erfolgte aus einem einfachen Grund: Es gibt genug zu tun. Obwohl heute längst ein Global Player in der Kultur- und Freizeitindustrie, ist die Geschichte der Gesellschaftsspiele nach wie vor ein weißer Fleck auf der Landkarte der Kulturwissenschaften. In den einzelnen Beiträgen werden bellizistische Spiele bzw. Kriegssimulationen in unterschiedlichen Kontexten betrachtet, das heißt, es wird versucht, Bezüge gleichzeitig sowohl zu den zeithistorischen als auch zu spielhistorischen Entwicklungen auf den Ebenen des Regelwerks, der Narration und der visuellen Inszenierung der Spiele herzustellen. Nicht zuletzt sollen durch umfangreiche Bildstrecken seltene Bilddokumente, Spielpläne und Regelkompendien zugänglich gemacht werden. Der Zeitraum reicht - bei allen notwendigen Vorgriffen in die Spielgeschichte - von etwa Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Wesentliche Aspekte sind dabei die Möglichkeiten und Grenzen von spieltheoretischen Mo...