Beschreibung
Körperliche und sensorische Beeinträchtigungen - etwa der Verlust von Gliedmaßen, Lähmungen, Blindheit oder Gehörlosigkeit - waren auch in der frühen Neuzeit ein fester Bestandteil der menschlichen Existenz. Sie stellten die Betroffenen und ihr soziales Umfeld vor andere, aber ähnlich tief greifende Herausforderungen wie heute. Patrick Schmidts Grundlagenstudie rekonstruiert anhand von Artikeln und Anzeigen aus britischen, französischen und deutschen Zeitungen und Zeitschriften, in welchen Zusammenhängen - etwa Armut und Armutspolitik, Krankheit und Heilung, Pädagogik und außergewöhnliche Körperlichkeit - "Behinderung" im 17. und 18. Jh. wahrgenommen und thematisiert wurde.
Autorenportrait
Patrick Schmidt, Dr. phil., ist Privatdozent an der Universität Rostock.
Leseprobe
Vorwort Den ersten Denkanstoß, mich mit der Geschichte beeinträchtigter Menschen zu beschäftigen, gab mir eine Quelle, die ich während der Recherchen für meine Doktorarbeit im Cabinet des Estampes et dessins in Straßburg entdeckte. Auf der Suche nach Zeugnissen zünftischer Erinnerungskulturen fand ich in einem Zunftbuch einen handschriftlichen Eintrag und ein Selbstporträt Matthias Buchingers, der den Lesern auf den folgenden Seiten mehrfach begegnen wird. Buchinger hat der Straßburger Zunft zur Stelz wahrscheinlich nicht angehört - aber die Korporation gab ihm 1711 Gelegenheit, sich in ihrem Stammbuch zu verewigen. Buchinger war von sehr kleinem Wuchs - im zeitgenössischen Sprachgebrauch ein "Zwerg" - und war ohne Hände und Füße zur Welt gekommen. In dem Straßburger Zunftbuch betont er, dass er sowohl sein Porträt als auch den begleitenden Text selbst mit "der fädter gezeignet und geschrieben" habe. Obwohl mein Erkenntnisinteresse damals ein ganz anderes war, habe ich diesen Quellenfund im Gedächtnis behalten. Er hat mir vor Augen geführt, dass es - was eigentlich selbstverständlich ist - auch in der Frühen Neuzeit Menschen gab, die in der Gegenwart als "körperlich behindert" bezeichnet werden würden. Zugleich war mein Eindruck, dass damals, im Jahr 2004, aus der Forschungsliteratur über diese Menschen kaum etwas zu erfahren war. Aus dieser Begegnung mit Matthias Buchinger hat sich auf etwas verschlungenen Wegen mein Habilitationsthema entwickelt. Die Biographie eines solchen Menschen zu schreiben, wäre mir reizvoll erschienen, aber mir wurde bald klar, dass die Quellenüberlieferung ein solches Buch nicht hergeben würde. Menschen wie Buchinger konnten als "armless wonders" zu kleinen Berühmtheiten werden. Aber sie waren nicht prominent genug, um die umfangreiche und einigermaßen lückenlose Überlieferung zu hinterlassen, die erforderlich wäre, um ihre Lebensgeschichten zu schreiben. Auch schien mir, dass etwas Anderes für die Geschichtswissenschaft relevanter wäre: Nämlich zu rekonstruieren, was in der Frühen Neuzeit über körperlich und sensorisch beeinträchtigte Menschen gedacht, geschrieben und publiziert werden konnte. Dies zumindest in Ansätzen zu leisten, ist das Ziel des vorliegenden Buches. Es zu schreiben, ist für mich zu einer besonderen intellektuellen und ethischen Herausforderung geworden. Anders als es bei Zeithistorikern der Fall ist, sind Frühneuzeit-Spezialisten meist in der komfortablen Lage, sich in ihrer Forschung nicht mit drängenden politischen oder moralischen Fragen auseinandersetzen zu müssen. Zwischen der Gegenwart und der Epoche, die wir untersuchen, liegt eine so große Distanz, dass es nicht nur gestattet, sondern auch wissenschaftlich geboten erscheint, die letztere nicht an den Maßstäben der Ersteren zu messen: Kein frühneuzeitliches Gemeinwesen war im modernen Sinne demokratisch oder rechtsstaatlich verfasst; keines hat die Gleichberechtigung der Geschlechter realisiert; ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten zu diskriminieren, war in ihnen Normalität; ebenso wie die Anwendung militärischer Gewalt als Mittel der Politik. Im Weltbild der Epoche war die Annahme fest verankert, dass Menschen ungleich geboren werden und nicht gleich. Unsere politischen und ethischen Idealvorstellungen können daher kein sinnvoller Maßstab zur Beurteilung frühneuzeitlicher Gemeinwesen sein. Das schien mir klar, als ich anfing, mich mit der Geschichte beeinträchtigter Menschen zu beschäftigen. Doch schnell wurde ich mit dem Umstand konfrontiert, dass Disability Studies und Disability History Forschungsfelder sind, in denen dies geradezu systematisch anders gesehen wird. Aus vielfältigen und guten Gründen fassen diese Disziplinen historische Forschung als politisch auf - auch dann, wenn sie sich weit zurückliegenden Epochen widmet. Viele Vertreter der Disability Studies möchten gesellschaftsverändernd wirken - helfen, eine gerechtere Welt zu schaffen. Und sie erforschen Geschichte, um sowohl die Wurzeln moderner Diskrimierungspraktiken zu finden als auch alternative Entwürfe für ein inklusiveres Zusammenleben beeinträchtigter und nicht-beeinträchtigter Menschen. Das erscheint mir einerseits legitim und wichtig. Andererseits lag und liegt mir das Ideal einer möglichst werturteilsfreien Forschung am Herzen. Und die Generalthese der Disability Studies, der zufolge Menschen in keiner Weise durch ihre Körper "behindert" sein, sondern ausschließlich aufgrund gesellschaftlicher Praktiken und Diskurse "behindert" werden können, hat mich nie gänzlich überzeugt. Solche Praktiken und Diskurse prägen zweifellos das Leben von Menschen, deren Körper von normativen Erwartungen abweichen, in hohem Maße. Aber ist tatsächlich eine Gesellschaft denkbar, in der es keinerlei Nachteile bedeuten würde, blind, gehörlos oder querschnittsgelähmt zu sein? Wenn ich mir solche skeptischen Fragen in bezug auf Grundpositionen der Disability Studies und der Disability History stellte, war mir indes zugleich klar, dass es mir als einer "temporarily abled person" nicht möglich war und ist, die Erfahrungen von Menschen, die als "behindert" etikettiert werden, nachzuvollziehen. War meine Skepsis gegenüber den gerade skizzierten Positionen nicht dem Dünkel und der Ignoranz eines Menschen zuzuschreiben, der nicht beurteilen kann, wovon er spricht? Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen hat mich Zeit und Mühe gekostet. Sie hat mich in einer Weise mit mir selbst konfrontiert, wie es vorherige Forschungen nicht ansatzweise getan haben. Und sie hat in dem recht ausführlichen theoretischen Teil der Studie ihren Niederschlag gefunden. Ob ich den Fragen gerecht geworden bin, mögen die Leser dieses Buches beurteilen. Mein herzlicher Dank gilt zunächst Horst Carl, Markus Völkel und Hillard von Thiessen. Sie alle haben das Entstehen dieser Studie mit freundlichem Interesse begleitet und mich ermuntert, obwohl - oder weil - die Disability History für sie Neuland war. Eine Reihe von Institutionen haben mir durch materielle Förderung das intellektuelle Abenteuer, das ein solches Projekt darstellt, erst ermöglicht. Das gilt für die Alexander von Humboldt Stiftung. Sie hat das Projekt mit einem Feodor-Lynen-Stipendium und einem sich anschließenden Rückkehrstipendium gefördert. Diese haben es mir ermöglicht, in Cambridge und Konstanz wichtige intellektuelle Anregungen zu empfangen. Das Deutsche Historische Institut in London hat mir mit einem Postdoc-Stipendium für einen Monat Forschungen in der British Library ermöglicht. Das Deutsche Historische Institut in Paris hat mir kein Geld gegeben - aber ein Zimmer und ein Bett. Die Möglichkeit der Unterbringung in den Gästezimmern des Instituts hat meine Forschungen in Paris enorm erleichtert. Die Gerhard Oestreich-Stiftung hat die Entstehung dieses Buches mit einem Druckkostenzuschuss gefördert. Allen diesen Institutionen gilt mein Dank. Richard J. Evans, Ulinka Rublack und Rudolf Schlögl haben meine Bewerbungen bei der Humboldt-Stiftung unterstützt, wofür ich dankbar bin. Sebastian Barsch, Anne Klein, Pieter Verstraete, Alison Montgomery und Martin Atherton haben mir die Möglichkeit eröffnet, meine Ideen bei Tagungen zur Diskussion zu stellen. Für die Möglichkeit, dasselbe in den Forschungskolloquien der Deutschen Historischen Institute in Paris und London zu tun, danke ich Gudrun Gersmann und Andreas Gestrich. Melissa Calaresu und William O'Reilly haben mich zu einem Vortrag im Early Modern European History Seminar an der University of Cambridge eingeladen, Rudolf Schlögl ins Oberseminar für frühneuzeitliche Geschichte an der Universität Konstanz. Ihnen sei für die intellektuellen Anregungen gedankt, die ich bei diesen Anlässen erhalten habe. Cordula Nolte und Bianca Frohne haben mich bei Tagungen des Projektes Homo debilis an der Universität Bremen als Zuhörer willkommen geheißen und mich dem dazugehörigen Forschungsnetzwerk assoziiert. Beides war sehr hilfreich. Dass aus der Habilitation das Buch geworden ist, das Si...