Narrative der Gewalt

Interdisziplinäre Analysen

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593509334
Sprache: Deutsch
Umfang: 304 S.
Format (T/L/B): 2 x 21.5 x 14 cm
Auflage: 1. Auflage 2019
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Wenn es um die Frage geht, wie Gewalthandlungen motiviert sind und wie unterschiedlich sie historisch legitimiert wurden, kommt man ohne die Analyse narrativer Formen nicht aus. Dieser Band versammelt profunde Beiträge aus Soziologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft und Archäologie, die von Autorinnen und Autoren aus jeweils anderen Disziplinen kommentiert werden. Sie machen deutlich, wie gewinnbringend die Beschäftigung mit Gewaltnarrativen ist und wie sie wirkungsvoll mit anderen Ansätzen verknüpft werden kann.

Autorenportrait

Ferdinand Sutterlüty ist Professor für Soziologie an der Universität Frankfurt am Main. Matthias Jung, PD Dr. phil., und Andy Reymann, Dr. phil., sind dort wiss. Mitarbeiter im LOEWE-Schwerpunkt 'Prähistorische Konfliktforschung'.

Leseprobe

Narrative der Gewalt: Eine Einleitung Matthias Jung, Andy Reymann und Ferdinand Sutterlüty Gewalt besitzt, wie alle sozialen Phänomene, eine zeitliche Struktur. Sie hat eine Vorgeschichte, einen Ablauf und später auftretende Folgen nicht nur für die Opfer und Täter, sondern auch für ganze Gruppen und Gesellschaften. Gewaltereignisse müssen erzählt werden, um ins individuelle und kollektive Gedächtnis treten und tradiert werden zu können. Häufig werden sie als besonders einschneidende Zäsuren wahrgenommen, die das gesellschaftliche Leben in ein Davor und ein Danach teilen. Das ist der Grund, weshalb Narrativität in allen Wissenschaften, die sich mit Gewaltphänomenen beschäftigen, von zentraler Bedeutung ist. Für die Soziologie und Ethnologie gilt das ebenso wie für die Archäologie und Geschichtswissenschaft, wenn auch mit verschiedenen Akzentuierungen und spezifischen Fragestellungen. Vielversprechend erscheint daher das Unterfangen des vorliegenden Bandes, die Diskurse, die in den genannten Disziplinen über Narrativität geführt werden, miteinander ins Gespräch zu bringen. Unterschiede in den disziplinären Theoriebezügen und Darstellungsusancen, aber auch die Spezifika der jeweils verfügbaren Datentypen und Quellenlagen lenken den Blick auf die Bedeutung von Narrativen für die Gewaltforschung. Die Beiträge zu diesem Band führen dies einmal mehr vor Augen. Aus unterschiedlichen Perspektiven richten sie die Aufmerksamkeit auf die Konstruktionsprinzipien von Gewaltnarrativen. Wie wird aus Daten, Berichten und materiellen Spuren von Gewalt eine zusammenhängende Geschichte? Welche Erzählprinzipien, Interpretationsmuster, Theorieannahmen und Modelle liegen Gewaltnarrativen zugrunde? Derartige Fragen und die vor allem mit langfristigen historischen Narrativen verknüpften Schlichen und Fallen, Vorannahmen, Suggestivwirkungen und Diskurseffekte werden von den Beiträgen reflektiert und teilweise dekonstruiert. Einige der Beiträge stellen wiederum ihrerseits Exempel von Gewaltnarrativen unterschiedlicher Reichweite dar. Eine Publikation wie diese, in der sich Aufsätze zu verschiedenen historischen Epochen, Gesellschaften und Formen der Gewalt gemeinsam zwischen denselben zwei Buchdeckeln wiederfinden, bedarf gewiss einiger einleitender Worte. Das Phänomen der Narrativität wurde zwar in vielerlei Hinsichten bereits untersucht, kaum jedoch der Umstand, dass Gewaltnarrative teilweise eigenen Konstruktionsregeln folgen und soziale Funktionen annehmen können, die ihnen eine besondere Form verleihen. Dieses Desiderats wollen wir uns im Folgenden annehmen. Zunächst gehen wir etwas allgemeiner auf einige narratologische Konstruktionsprinzipien ein, um dann die unterschiedlichen Verwendungsweisen von Gewaltnarrativen in den historischen Wissenschaften und in den Sozialwissenschaften näher zu beleuchten. Konstitutionsbedingungen von Narrativen Narrativität ist allgegenwärtig. Mit Ludwig Wittgenstein könnte man sagen, dass es sich dabei um eines jener Phänomene handelt, "die dem Bemerktwerden nur entgehen, weil sie ständig vor unseren Augen sind". Narrativität ist eine universelle, das menschliche Kommunizieren und Realitätserleben beeinflussende Wahrnehmungsebene, nicht nur ein "Register, welches bisweilen ein- und ausgeschaltet wird, sondern ein Filter, durch den wir alle Ereignisse und alles Verhalten wahrnehmen". Die Prädisposition, Wahrnehmung und Erfahrung narrativ zu organisieren, sollte allerdings nicht als eine Art Denkkorsett missverstanden werden, dessen man sich nicht entledigen kann. Es ist vielmehr möglich, sie durch Reflexion zu distanzieren und in ihren Struktureigenschaften zu erkennen. Theorien, die eine unhintergehbare Immanenz narrativer Strukturen behaupten, sind selbstwidersprüchlich, weil sie in Anspruch nehmen müssen, diese Immanenz bereits durchbrochen zu haben. Freilich ist die Varianz von wissenschaftlich bedeutsamen Narrativen hinsichtlich ihrer Gegenstände, Konstruktionsprinzipien und Reichweiten enorm. Zwischen der Erzählung einer Szene häuslicher Gewalt in einem Interview, das dann in der Forschung analysiert wird, und einer zivilisationsgeschichtlichen Analyse, die selbst ein Narrativ über die Rolle der Gewalt in der Menschheitsgeschichte fabriziert, liegen Welten. Die basalste Ebene von Narrativen ist indessen bereits in sprachlichen Strukturen verankert. Schon die Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur von Sätzen in den indoeuropäischen Sprachen nämlich ist narrativ angelegt. Sätze lassen sich gar nicht formulieren, ohne eine Handlungsinstanz sowie eine Handlung oder einen Zustand zu benennen, die sodann in Relation zu anderen Entitäten gesetzt werden, durch welche oder mit welchen etwas geschieht. Bei aller Mannigfaltigkeit muss sich jede Darstellung der Realität diesem Grundschema fügen. Am anderen Ende der nach mikro- und makrologischen Erzählstrukturen gegliederten Skala stehen weit ausgreifende und elaborierte Metanarrative. Diese integrieren geschichtliche Epochen und betten Narrative geringerer Reichweiten in ihre Darstellung ein; diesen fügen sie durch die weitere Kontextuierung mitunter gänzlich neue Bedeutungsdimensionen hinzu. Konrad Jarausch bestimmt die Besonderheiten solcher Metanarrative in einer Weise, die uns noch beschäftigen wird: "Sie behandeln langfristige Entwicklungsprozesse, vereinfachen komplexe Zusammenhänge zu einem Grundmuster, integrieren unterschiedliche Geschichten in einer großen Erzählung, bieten ideologische Anweisungen für politisches Handeln und projizieren kulturelle Identitätsvorstellungen." Über die Organisation der Wahrnehmung und Erfahrung hinaus stiften Narrative die Kohärenz individueller Lebensgeschichten, auf welche sich etwa das Erkenntnisinteresse der sozialwissenschaftlichen Methode des autobiografisch-narrativen Interviews richtet. Narrative sind konstitutiv für das Selbstverständnis von Kollektiven und Staaten, deren Handlungsentscheidungen sie nachhaltig beeinflussen. Dabei können Narrative die Sozialgruppen, in denen sie entstanden sind, um Jahrhunderte und Jahrtausende überdauern, ohne ihre Motivationskraft einzubüßen. Ein Paradebeispiel dafür ist die kanonische Exodus-Erzählung, die im Laufe der Geschichte innerhalb der jüdisch-christlichen Kultursphäre zahlreichen Befreiungskämpfen das imaginative Repertoire geliefert hat. Narrative fungieren einerseits als in der Zeit entfaltete Vergewisserung und auch Verstetigung von Identitäten und historisch gewachsener Praxen. Andererseits bilden sie aber auch eine Darstellungsform theoretischer, von den Zumutungen der Praxis entlasteter Erkenntnis. Es lassen sich demnach zwei Typen von Narrativen unterscheiden: die eher naturwüchsigen, alltagspraktischen Narrative, deren Konstruktionsregeln meist implizit bleiben, und wissenschaftliche Narrative, die ihre regulatorischen Prinzipien im Idealfall vollständig explizieren. Beide Arten von Narrativen haben performative Effekte: Sie bewirken etwas. Was erzählt wird und wie es erzählt wird, hat Folgen für die soziale Praxis. Diese Folgewirkungen, die ein nicht intendierter Effekt des Narrativs oder auch das Ergebnis einer instrumentellen Absicht sein können, werden wiederum ihrerseits zum Gegenstand von wissenschaftlichen Analysen, Fortsetzungs- und Gegennarrativen. Angesichts der hier nur kursorisch angedeuteten Vielgestaltigkeit überrascht es, dass die konstitutiven Grundelemente, aus denen sich Narrative zusammensetzen, doch recht überschaubar sind. Ausgehend von der Poetik des Aristoteles, lassen sich drei notwendige Voraussetzungen von Narrativen unterscheiden. Erstens ist eine identifizierbare Handlungsinstanz in Gestalt eines individuellen oder kollektiven Akteurs erforderlich, dem Zustände und Vorgänge zugeschrieben werden können. Daraus resultiert eine im Kern handlungstheoretische Perspektive, die allerdings leicht dazu verführen kann, sich mit der Wiedergabe von geschichtlichen Verläufen zu begnügen und explikative Ansprüche auf die bloße Abfolge von Ereignissen und Zuständen zu re...

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