Beschreibung
Angesichts der gegenwärtigen Krisen des Kapitalismus hat das Werk von Karl Marx wieder an Aktualität gewonnen. Dieses Buch wirft grundlegende Fragen einer undogmatischen und kritischen Beschäftigung mit Marx und seinem Denken auf und stellt sie zur Diskussion. Es präsentiert internationale Forschungsansätze nach dem Scheitern der sich auf Marx berufenden politischen Regime. Aufgrund einer konsequenten Historisierung wird deutlich: Marx war durch seine Herkunft, seine Lebensstationen, sein Denken und seine politischen Aktivitäten fest im westeuropäischen Radikalismus verwurzelt. Vor diesem Hintergrund untersuchen die Beiträge auch die Tragfähigkeit von Marx zur Analyse gesellschaftlicher Konstellationen im 21. Jahrhundert. Die Aufsätze behandeln exemplarisch Marx ideengeschichtliche Kontexte, sein Engagement für die entstehende internationale Arbeiterbewegung, seine Kapitalismusanalyse, seine Kanonisierung und Nachwirkung. Mit Beiträgen von Heinz Bude, Axel Honneth, Jürgen Kocka, Gerd Koenen, Christina Morina, Wilfried Nippel, Jonathan Sperber, Gareth Stedman Jones u.a. Renommierte Historiker und Sozialwissenschaftler ziehen Bilanz Perspektiven für die Krisen des 21. Jahrhunderts
Autorenportrait
Martin Endreß ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Trier. Christian Jansen ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier.
Leseprobe
Einleitung Martin Endreß / Christian Jansen Karl Marx war von seiner Herkunft und den spezifischen Umständen in Trier im Vormärz tief geprägt, obwohl er dieser Heimat, sobald er konnte, den Rücken kehrte und selten gut über sie sprach. Dieser berühmteste Trierer erhitzt die Gemüter weiterhin - heute womöglich noch ausgeprägter als in den Jahrzehnten vor 1989. Denn die Folgen von Glasnost und Perestroika haben mit dem Scheitern vieler politischer Systeme, die sich auf Marx bezogen, nicht nur die Beschäftigung mit ihm auf eine neue Ebene gehoben und viele neue Fragen aufgeworfen. Sondern der Umbruch in der DDR und der Sowjetunion ermöglichte auch die Vollendung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA ), der historisch-kritischen Edition der Werke, Manuskripte und Briefe der beiden Meisterdenker, in einer zuvor ungeahnten Offenheit, d.h. jenseits der zuvor bestimmenden Orthodoxie und ihres Dogmatismus. Die Materialbasis, die die MEGA - eines der größten Editionsvorhaben aller Zeiten - zur Verfügung stellt, bedeutet fast einen Zwang für Historiker*innen und Sozialwissenschaftler*innen, sich erneut, historisch-kritisch mit Marx zu befassen. Denn nach den posthumen Veröffentlichungen von Engels und der Entdeckung der 'Pariser Manuskripte' Anfang der 1930er Jahre erhalten Marx Werke und seine intellektuellen Anstrengungen, die Welt und vor allem den Kapitalismus zu verstehen, nunmehr eine dritte Chance. Und erstmals lassen sie sich uneingeschränkt durch Scheuklappen, Tabus und Denkverbote durchdringen und in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit würdigen. Die Jahre des Dogmatisierens und Verschüttens und der mit seinem Werk verbundenen quasi religiösen Heilserwartungen hatten erhebliche Aspekte seines Denkens verborgen. In diesem Sinne hat der wahre Marx seine Zukunft womöglich sogar noch vor sich. Marx Augenmerk galt den ebenso fundamentalen wie augenfälligen Veränderungen des gesamten sozialen Lebens seiner Zeit, also (1) der bis dahin für unvorstellbar gehaltenen Umwälzung der Produktionsverhältnisse und der politischen Ökonomie durch den Kapitalismus, (2) den damit einhergehenden Veränderungen dessen, was Arbeit für menschliche Lebensgestaltung bedeutete, zugespitzt im Begriff der Entfremdung, (3) der sich verschärfenden sozialen Frage, (4) der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft und (5) der sich in diesen Prozessen artikulierenden, alle gesellschaftlichen Bereiche erfassenden Dynamik. Diese - hier nur grob umrissene - Gesamtkonstellation unterzog Marx einer systematischen Analyse und Kritik. Karl Marx gehört aufgrund seiner umfassenden Analyse der politischen, sozialen und ökonomischen Umwälzungen seiner Zeit neben Max Weber, Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Karl Mannheim zu jenen deutschsprachigen Klassikern, deren Werke sozialwissenschaftliche, politische und historische Forschungen und gesellschaftliche Diskussionen international nachhaltig geprägt haben und auch im 21. Jahrhundert weiter prägen. Marx Name steht zugleich für jene Generation von Gelehrten, für die eine Beschäftigung mit sozialen, politischen und historischen Fragestellungen ohne philosophische Fundierung undenkbar war. Marx begründet das Paradigma einer 'kritischen' Analyse und Theorie, das - neben den insbesondere von Max Weber und der frühen Kritischen Theorie geführten Debatten - die theoretische Landschaft in den Sozial- und Geschichtswissenschaften seit Ende der 1960er in Europa, in den USA und auch darüber hinaus entscheidend prägt. Marx Geschichts- und Kapitaltheorie beeinflussten sowohl das methodische als auch das theoretische Verständnis sozialer Wirklichkeit in zahlreichen wissenschaftlichen Diskussionen nachhaltig. Dabei steht der Name 'Marx' im wissenschaftlichen wie im politischen und alltäglichen Sprachgebrauch als Chiffre für das äußerst erfolg- und einflussreiche Freundes-, Autoren- und Politikerpaar Karl Marx und Friedrich Engels. In vielen ihrer inzwischen großenteils historisch-kritisch ediert vorliegenden Texte lässt sich nicht präzise unterscheiden, welcher Gedanke oder welcher Satz von wem stammt. Auch andere, vor allem Marx Frauen - seine Ehefrau Jenny und seine drei Töchter Laura, Jenny und Ellinor - haben an dem 'Marx', der heute gelesen, studiert und auf die Gegenwart angewendet werden kann, mitgewirkt: als Diskussionspartner *innen, als Kritiker*innen, als diejenigen, die Karl Marx notorisch unleserliche Handschrift durch Abschrift lesbar machten, und die als Editor*innen und Redakteur*innen nach seinem Tod sein Werk nachfolgenden Generationen überlieferten und erschlossen. Der vorliegende Band ist hervorgegangen aus der internationalen Konferenz 'Karl Marx 1818-2018. Konstellationen, Transformationen und Perspektiven', die vom 23. bis 25. Mai 2018 anlässlich seines 200. Geburts-tages in Marx Geburtsstadt stattfand, sowie aus einer ebenfalls in Trier veranstalteten zweisemestrigen Ringvorlesung vom April bis Dezember 2018. Ausgewählte Beiträge beider Veranstaltungen in zumeist stark überarbeiteten und erweiterten Fassungen sollen in diesem Band wichtige internationale, mit dem Werk von Karl Marx verbundene Forschungsstränge zusammenführen. Leitend ist das Anliegen, die theoretische und empirische Relevanz seines Paradigmas einer kritischen dialektischen Analyse der politischen Ökonomie, also des Zusammenhangs und der Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu diskutieren. Nahezu alle Beiträge lassen sich dabei vom Gedanken einer konsequenten Historisierung der Arbeiten von Marx mit dem Ziel einer Untersuchung ihrer systematischen Tragfähigkeit für aktuelle Analysen gesellschaftlicher Konstellationen leiten. Namhafte Vertreter*innen und kritische Kenner*innen von Marx Oeuvre und Denken wurden gebeten, die theoretischen und empirischen Möglichkeiten und Anschlussfelder zu skizzieren, die Marx Denken für ein Verständnis der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit bereithält, die durch Stichworte wie 'Globalität', 'Multikulturalität', 'Migration' und 'Individualisierung' geprägt ist. Die Beiträge zeigen, wie weit die Rezeption und Weiterentwicklung von Marx Denken 'nach dem Marxismus', nach dem Scheitern der politischen Regime, die sich in Europa auf Marx beriefen, und nach dem weltweiten Rückgang seiner Inanspruchnahme durch Staaten und Regierung gediehen sind. Die wesentlichen Instrumente einer postmarxistischen Beschäftigung mit Marx als Person, als bis heute äußerst einflussreicher Denker und aktiver Politiker sind: Historisierung, Kontextualisierung, Entmystifizierung und eine nicht dogmatische Rezeption des gesamten, vielfach in Bruchstücken vorliegenden und keineswegs widerspruchsfreien Oeuvre. Zugleich hat Marx Denken - vor allem in popularisierten Versatzstücken und Einzel-aspekten, aber durchaus auch in anspruchsvollen, wissenschaftlichen und systematischen Aneignungen (Lesezirkel, Arbeitskreise) - angesichts der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus wieder große Aktualität gewonnen und Hoffnungen geweckt, aus Marx und Engels Werk Handlungsanleitungen und Lösungen für aktuelle Probleme ableiten zu können. Zentrale Intention des Trierer Kongresses war es, einen wesentlichen Beitrag zur Historisierung von Marx zu leisten. Die Herangehensweise aller Beiträge ist in erster Linie geschichtswissenschaftlich und sozialwissenschaftlich. Historische, systematische und gesellschaftspolitische Fragestellungen stehen im Mittelpunkt. Philosophische und ökonomische Perspektiven, die für das Verständnis und die kritische Aneignung und Weiterentwicklung von Marx Werk ebenfalls zentral sind, spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Vor allem den historischen Beiträgen geht es um die Überwindung des Marx-Bildes des 20. Jahrhunderts und des Kalten Krieges. In Moskau und Ostberlin saßen im kurzen 20. Jahrhundert (1917-1990) die Redaktionen, die Marx Werke edierten und einer international breiten Leserschaft zugänglich machten. Zu den wenigen Dingen, die politisch interessierte Besucher aus dem Westen für ihre zwangsumget...