Politik der Apokalypse

Wie Religion die Welt in die Krise stürzt

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783608941142
Sprache: Deutsch
Umfang: 363 S.
Format (T/L/B): 3.1 x 21.1 x 13.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Die Politik des 20. Jahrhunderts ist ein Kapitel der Religionsgeschichte. Mit dieser Einsicht leitet John Gray seinen Abriss moderner politischer Ideen von der Antike bis in die Gegenwart ein. Furios und in verblüffender Evidenz stellt Gray dar, wie sehr sich islamische oder christliche Fundamentalisten und neoliberale Turbokapitalisten, die Jakobiner im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts, die Nationalsozialisten und die US-amerikanische Bush-Regierung ähneln. Die von Utopien geschundene Welt lässt sich im 21. Jahrhundert nur noch durch eine globale Realpolitik vor dem Untergang bewahren.

Autorenportrait

John Gray, geboren 1948, ist Professor für Europäische Ideengeschichte an der London School of Economics. Durch zahlreiche Sendungen für die BBC wurde er weltweit bekannt, wie auch als Autor herausragender Bücher gefeiert: 'Die falsche Verheißung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen'; ferner der Weltbestseller 'Straw Dogs'; dt. 'Von Menschen und anderen Tieren'.

Leseprobe

1 DER TOD DER UTOPIE Die Politik der Moderne ist ein Kapitel der Religionsgeschichte. Die großen revolutionären Umbrüche, welche die vergangenen zwei Jahrhunderte entscheidend prägten, waren Episoden der Glaubensgeschichte - Wegmarken, die den nicht enden wollenden Zerfall des Christentums und den Aufstieg politischer Religionen anzeigen. Unsere Welt am Beginn des neuen Jahrtausends ist übersät mit den Trümmern utopischer Projekte, die zwar säkular auftraten und sich religiösen Vorstellungen widersetzten, in Wirklichkeit aber von religiösen Mythen getragen waren. Kommunismus wie Nationalsozialismus beanspruchten, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beruhen - im Fall des Kommunismus auf der Pseudowissenschaft des historischen Materialismus, im Fall des Nationalsozialismus auf dem Sammelsurium einer 'wissenschaftlichen Rassenlehre'. Die Verwendung pseudowissenschaftlicher Begründungen fand aber mit dem Zusammenbruch des Totalitarismus, der im Dezember 1991 im Zerfall der Sowjetunion gipfelte, keineswegs ein Ende. Neokonservative Theorien setzen sie fort. Denn folgt man ihnen, so mündet die Entwicklung der gesamten Welt in ein und dieselbe Regierungsform und in ein und dieselbe Wirtschaftsordnung - eine universelle Demokratie und einen globalen freien Markt. Dieser Glaube, die Menschheit stünde an der Schwelle einer neuen Ära, kommt sozialwissenschaftlich daher, ist aber einfach nur die neueste Spielart apokalyptischer Anschauungen, die bis in die Antike zurückreichen. Jesus und seine Jünger glaubten, sie lebten in einer Endzeit und alles Leid und Elend ihrer Welt werde bald vorübergehen. Krankheit und Tod, Entbehrung und Hunger, Krieg und Unterdrückung werde es nicht mehr geben, nachdem die Mächte des Bösen in einer welterschütternden Schlacht endgültig vernichtet seien. Dieser Glaube beseelte die ersten Christen. Spätere christliche Denker deuteten die Endzeit zwar in ein Gleichnis für einen inneren Wandel um, doch seit jenen Anfängen ist die Vorstellungswelt des Abendlands eine apokalyptisch-visionäre. Im Mittelalter kamen in Europa Massenbewegungen auf, die von der Überzeugung erfüllt waren, das Ende der Geschichte und die Geburt einer neuen Welt stünden unmittelbar bevor. Die neue Welt, so glaubten diese Christen, konnte einzig und allein Gott bewirken. Als das Christentum an Einfluss verlor, verblasste die Vorstellung einer bevorstehenden Endzeit keineswegs. Vielmehr verstärkte sich diese Hoffnung sogar noch und gewann an Militanz. Die Revolutionäre der Neuzeit wie die französischen Jakobiner und die russischen Bolschewiken verabscheuten die traditionelle Religion. Ihre Überzeugung jedoch, sie könnten in einer allumfassenden Umwälzung des menschlichen Lebens die Verbrechen und Torheiten der Vergangenheit hinter sich lassen, war eine säkulare Neuauflage frühchristlicher Ideen. Diese Revolutionäre waren radikale Aufklärer und wollten eine wissenschaftliche Weltsicht an Stelle der Religion inthronisieren. Doch ihr Glaube, ein plötzlicher Umschwung in der Geschichte des Menschen sei möglich, der die Fehler der Gesellschaft für alle Zeiten beheben werde, wurzelt im apokalyptischen Christentum. Die aufklärerischen Ideologien der vergangenen Jahrhunderte bestanden zu einem sehr großen Teil aus einer verfremdeten, ins Gegenteil verkehrten Theologie. Deshalb führt das Bild eines rein säkular geprägten Fortschritts, das linientreue Vertreter der Rechten wie der Linken gern von ›ihrem‹ 20. Jahrhundert zeichnen, in die Irre. Die Machtergreifung der Bolschewiken oder der Nationalsozialisten gründete ebenso in einem Glaubenssystem wie die theokratische Revolution des Ayatollah Khomeini im Iran. Allein schon die Vorstellung von der Revolution als einem Ereignis, das den Lauf der Geschichte verändert, ist im Kern religiös. Moderne Revolutionen und revolutionäre Bewegungen sind Fortsetzungen der Religion mit anderen Mitteln. Säkularisierte Spielarten religiöser Überzeugungen finden sich nicht nur bei Revolutionären, sondern auch bei liberal denkenden Humanisten. Sie nehmen an, die Menschheit entwickle sich in einem mühsamen Prozess Schritt für Schritt weiter. Der Glaube an ein bevorstehendes Weltende und der Glaube an einen langsamen, stufenweisen Fortschritt scheinen auf den ersten Blick unvereinbare Gegensätze zu sein. Erwarten die einen die Vernichtung der Welt, so erwarten die anderen einen Wandel voller Verheißungen, aber im Grunde weichen sie gar nicht so weit voneinander ab. Fortschrittstheorien haben mit Wissenschaft nichts zu tun, ob sie nun einen allmählichen Wandel oder einen revolutionären Umbruch vorhersagen. Sie sind Mythen und kommen dem menschlichen Sinnbedürfnis entgegen. Die politische Sphäre hat sich seit der Französischen Revolution durch eine Reihe utopistischer Bewegungen von Grund auf verändert. Ganze Gesellschaftssysteme wurden ausgelöscht. Die Welt ist eine völlig andere als zuvor. Die wundersamen Verwandlungen, die utopistische Denker sich ausgemalt hatten, sind freilich ausgeblieben. Wenn man ihre Ideen zu verwirklichen versuchte, kam meist das Gegenteil dessen heraus, was ursprünglich angestrebt war. Dennoch wurden immer wieder utopistische Projekte in Angriff genommen, bis in unser 21. Jahrhundert hinein, in dem der mächtigste Staat der Welt einen Feldzug startete, um die Demokratie in den Nahen und Mittleren Osten und in die ganze Welt zu exportieren. Utopistische Projekte dieser Art spiegeln religiöse Mythen wider, an denen sich Massenbewegungen des Mittelalters berauschten, und entfesseln eine ähnliche Art von Gewalt. Der säkulare Terror der Moderne ist eine Abart der Gewalt, von der das Christentum in seiner gesamten Geschichte durchdrungen ist. Der frühchristliche Glaube, das von Gott herbeigeführte Ende der Zeiten stehe bevor, nahm über 200 Jahre lang die Gestalt der Überzeugung an, der Mensch könne Utopien durch sein Handeln Wirklichkeit werden lassen. Frühchristliche Apokalyptik, nun aber wissenschaftlich verbrämt, ließ eine neue, im Glauben gründende Form der Gewalt entstehen. Als das Projekt einer universellen Demokratie auf den Straßen des Irak im Blutbad scheiterte, begann sich das ideologische Muster zu verschieben. Das utopistische Denken hat zwar eine schwere Niederlage erlitten, doch Politik und Krieg dienen nach wie vor als Instrumente, mit denen man mythische Vorstellungen durchzusetzen versucht. An die Stelle der säkular geprägten Überzeugungen, mit denen man Schiffbruch erlitten hat, treten heute primitive Formen der Religion. Das politische Handeln des US -amerikanischen Präsidenten George W. Bush und seines iranischen Gegenspielers Mahmud Ahmadinedschad ist religiös-apokalyptisch geprägt. Das Wiedererstarken der Religion hängt, ganz gleich, wo es stattfindet, auch mit politischen Konflikten zusammen, etwa mit den sich verschärfenden Auseinandersetzungen um schrumpfende natürliche Ressourcen. Es kann aber keinen Zweifel geben, dass auch die Religion als solche wieder erstarkt ist und eine eigene Macht darstellt. Mit dem Tod der Utopien hat das apokalyptische religiöse Denken neuen Auftrieb gewonnen und ist, unverhüllt und ohne säkulare Tarnung, zu einem bestimmenden Faktor der Weltpolitik geworden. Das Ende, mal wieder [.] Es ist an der Zeit, den Wert religiöser Vielfalt anzuerkennen und von dem Versuch abzulassen, eine monolithische säkulare Weltgesellschaft zu errichten. Wir befinden uns zwar in einer postsäkularen Ära, doch ist dies kein Freibrief für Religionen, sich über die Beschränkungen hinwegzusetzen, die für ein zivilisiertes Zusammenleben unerlässlich sind. Strukturen zu schaffen und durchzusetzen, in denen Religionen friedlich koexistieren können, gehört zu den zentralen Aufgaben einer Regierung. Derartige Rahmenbedingungen können nicht in jeder Gesellschaft gleich aussehen oder für alle Zeiten festgelegt werden. Sie verkörpern eine Toleranz, deren Ziel nicht Wahrheit, sondern Wahrung des Friedens ist. Wer bei aller Toleranz letztlich doch auf Wahrheit aus ist, der träumt... Leseprobe

Inhalt

1 Der Tod der Utopie Apokalyptische Politik Die Geburt der Utopie Die utopistische Rechte als millenarische Bewegung der Moderne 2 Aufklärung und Terror im 20. Jahrhundert Der Sowjetkommunismus: eine millenarische Revolution der Moderne Nationalsozialismus und Aufklärung Terror und westliche Tradition 3 Der Utopismus greift auf den politischen Mainstream über Margaret Thatcher und der Tod des Konservatismus Erscheinen und Verschwinden des Neoliberalismus Ein amerikanischer Neokonservativer in Downing Street Number 10 4 Die Amerikanisierung der Apokalypse Von der Puritaner-Kolonie zur Erlöser-Nation Die Ursprünge des Neokonservatismus »Die Dämonen« 5 Bewaffnete Missionare Der Irak: ein utopistisches Experiment im 21 . Jahrhundert Missionarischer Liberalismus, liberaler Imperialismus Warum der »Krieg gegen den Terror« nicht zu gewinnen ist 6 PostApokalypse Nach dem Säkularismus Die Unübersichtlichkeit der Welt: Die verlorene Tradition des Realismus Das Ende, mal wieder Anmerkungen Dank Register

Schlagzeile

'Ein abgeklärtes, furioses Sachbuch über politische und religiöse Ideen, wie sie zueinander passen oder wie und warum sie dies gerade nicht tun.' Antonia S. Byatt, The Guardian>