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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783627001599
Sprache: Deutsch
Umfang: 288 S.
Format (T/L/B): 3 x 21 x 13.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Ein kunstvoll über mehrere Zeitebenen konstruierter Roman über einen deutschen Diplomaten unter Hitler und in einem Nachkriegsdeutschland, in dem jeder das Vergangene vergessen machen will. Konrad Weber ist stellvertretender Leiter des deutschen Generalkonsulats in Mailand, 1943 eine scheinbar friedliche Enklave, die ihn vor dem Alltag der nationalsozialistischen Diktatur und dem Krieg schützt. Nach der Pensionierung seines Vorgesetzten wird ihm zunächst ein im diplomatischen Dienst unerfahrener, weit jüngerer NS-Gefolgsmann vor die Nase gesetzt. Dieser deckt Unstimmigkeiten in den Rechnungsbüchern auf, die in den Verantwortungsbereich Webers fallen. Wendler, ein Bekannter von Weber, hilft ihm nicht ohne eigenen Vorteil aus der verfahrenen Situation und vermittelt ihm ein riskantes Geschäft. 'Der Roman erzielt eine raffinierte Vieldeutigkeit, die sich auch nach wiederholter Lektüre nicht erschöpft. Die Beobachtungs- und Kombinationsgabe der Autorin ist selbst einer Schachmeisterin würdig [].' FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG 'Nora Bossong ist die wohl begabteste Erzählerin und Lyrikerin der jüngsten Autoren-Generation und Webers Protokoll ein Roman, dessen historisches und stilistisches Bewusstsein die Bemühungen vergleichbarer Jungautoren blass aussehen lässt.' NEUE ZÜRCHER ZEITUNG 'Ein spannender, fulminanter Roman. Die Sprache lebt ungemein, es ist phantastisch, wie viele Stimmen man in Webers Protokoll hört. Ein magischer Roman.' SWR 2

Autorenportrait

Nora Bossong lebt in Berlin und wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Peter-Huchel-Preis und dem Roswitha-Preis. Für ihren Debütroman 'Gegend' (FVA 2006) erhielt sie das Leipziger Literaturstipendium und das Prosawerk-Stipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung. 2009 folgte ihr Roman 'Webers Protokoll' in der Frankfurter Verlagsanstalt.

Leseprobe

Ich stelle mir seine Augen vor an jenem Tag, an dem er überlegt, noch einmal zum Arzt zu gehen, zu sagen: Sehen Sie doch, ich hatte recht. Sehen Sie es denn nicht? Die Augen sind blutlos, bewegen sich kaum mehr, die Farbe ist aus der Iris in tiefer liegende Kapillaren gesickert. Es könnte ein Uhr mittags sein, ein kalter, aber sonniger Tag, als Weber sich auf den Weg macht, um seine letzten Spuren zu beseitigen. Weber im Jackett, Krawatte sorgfältig gebunden, tritt aus einem Hauseingang, ein in seiner grauen Kleidung kaum sichtbarer Mann, Aktentasche in der Hand, schwarzes Leder. Weber, Sie wollen doch nicht, dass man schlecht über Sie denkt. Er blickt die Häuserfassade hinauf, hell getünchte Steine, die das Sonnenlicht reflektieren, es könnte gestern schon so ausgesehen haben, es könnte im letzten Jahr so ausgesehen haben, Weber erinnert sich nicht. Er kann sich nicht gut erinnern. Er hört die Stimme seines Arztes: Lieber Herr Weber, so leid es mir tut, ich kann nichts finden. Das Licht schlägt gegen die Häuser, er reibt sich mit der Hand über die Augen, reibt gegen ein Brennen an, das, wie er überzeugt ist, das Innere seiner Glaskörper zerstört. Und er ist sich sicher: Im Zentrum seines Sehnervs bestimmt eine Krankheit seine Wahrnehmung, schränkt seine Handlungen ein, seit Jahren. An einer Ampel muss Weber warten. Neben ihm ist eine Auslage mit Obst und Gemüse aufgebaut, er nimmt eine Ingwerwurzel in die Hand, ohne zu erkennen, was es ist, betrachtet sie, ein Experte, dem ein Gegenstand aus einem anderen Fachgebiet vorgelegt wird. Ingwer kennt er nur geschält und zerraspelt, als Verfeinerung von Orangenmarmelade. Vielleicht kommt ihm etwas mit alten Bäumen in den Sinn oder der Geruch von Druckerschwärze, doch das ist nicht gesagt. Er legt den Ingwer zurück. Dann geht er weiter. Als er die Straße überquert, hupt ein Taxi an ihm vorbei. Weber zuckt zusammen, aber nicht mehr, als man bei einer Filmszene erschrecken würde. Er streicht sich über die mit Haarwasser zurückgekämmten Locken, in der Stirn Locken, leichte Wellen, zurückgeworfen, die übereinanderfallen, sich wieder vorwälzen. Wellen über Wellen. Ein Rauschen in Webers Kopf: "Ich kann, so leid es mir tut, nichts finden, ich werde auch morgen nichts finden und nächste Woche" - der Arzt wischt mit dem Ärmel seines Kittels über den Schreibtisch -, "für nächste Woche glaube ich auch nicht daran." Auf der anderen Straßenseite stellt Weber die Tasche auf eine Mauer, sieht sich um, der Bürgersteig ist leer. Am Himmel hat ein Flugzeug Spuren hinterlassen, weiße Schraffuren auf Blau. Eine Maschine aus Rom, denkt Weber. Bestimmt aus Rom. Seinem Portemonnaie entnimmt er einen winzigen Schlüssel, den er in das winzige Schloss der Aktentasche zu stecken versucht. Der Schlüssel gleitet ihm aus den Fingern, das Klirren auf dem Fußweg ist kaum hörbar. Er bückt sich, ein leichter Schwindel fließt durch seinen Kopf, er tastet über den Boden, liest den Schlüssel auf, stochert mit ihm im Schloss, lässt die Schnallen aufschnappen. Er erinnert sich an nichts. In seinem Kopf ein Ballsaal, tausend Stimmen reden um ihn her, aber niemand spricht mit ihm, draußen regnet es, es könnte später September sein, und Mädchen auf hohen Absätzen balancieren Tabletts voller Gläser durch den Raum. "Darf es für Sie noch ein Sekt sein?" Weber, auf einem Frankfurter Bürgersteig stehend, von einem Wall aus Verkehrslärm umgeben, blickt in seine Tasche hinein. Aber dass es Erinnerung gibt, ist ja nicht wahr, man stellt sie sich nur vor, ist Weber überzeugt. Er blickt in seine Tasche hinein, und ich blicke auf, blicke den uralten Diplomaten an, der mir mit einem leeren Sektglas in der Hand gegenübersitzt, im Nebensaal eines Hotelrestaurants, in den wir uns zurückgezogen haben. Hinter ihm eine Fensterfront, und er und die Front passen so wenig zusammen, es sieht wie eine Rückprojektion aus, ein Filmtrick, bei dem sich um die Figuren schwarze Linien ...