Am Skalpell war noch Tinte

Literarische Medizin

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783737410977
Sprache: Deutsch
Umfang: 376 S.
Format (T/L/B): 3.5 x 20.5 x 14 cm
Auflage: 1. Auflage 2018
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Angst und Hoffnung, Trauer und Trost, Einsamkeit und Gemeinschaft - die schönen und die dunklen Momente des Lebens gehören in der Medizin stets zusammen. Seit jeher beschäftigt die Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod nicht nur die Medizin, sondern auch die Literatur. Und so verwundert es nicht, dass viele Ärztinnen und Ärzte die intensiven Erfahrungen, die ihr Beruf tagtäglich mit sich bringt, auch zu Papier gebracht haben. Ausgewählt von Florian Steger, geben die hier versammelten Texte Einblick in die Erlebniswelt von Patientinnen und Patienten, Angehörigen, Ärzten und Pflegenden. Die abwechslungsreiche Anthologie umfasst dabei Gedichte und Auszüge aus Theaterstücken und Romanen von internationalen Schriftstellerärztinnen und Schriftstellerärzten aus dem 16. bis 21. Jahrhundert. Bekannte Autoren wie Alfred Döblin, Anton Tschechow, Georg Büchner oder Michael Bulgakov finden sich dabei ebenso wie die ein oder andere Neuentdeckung.

Autorenportrait

Florian Steger ist Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm. 2009-2014 Mitglied der Jungen Akademie an der BBAW und Leopoldina. 2008 Habilitation in Erlangen (Bayerischer Habilitationsförderpreis). 2002 Promotion in Bochum. Studium der Humanmedizin, Klassischen Philologie und Geschichte (Studienstiftung des deutschen Volkes).

Leseprobe

Michail Bulgakov Die stählerne Kehle Nun war ich also allein. Rings um mich Novemberfinsternis mit stöberndem Schnee, das Haus verweht, in den Schornsteinen heulte es. Die vierundzwanzig Jahre meines Lebens hatte ich in einer riesigen Stadt verbracht, und ich hatte geglaubt, der Schneesturm heule nur in Romanen. Jetzt stellte sich heraus, er heulte tatsächlich. Die Abende hier waren ungewöhnlich lang, die Lampe mit dem blauen Schirm spiegelte sich im schwarzen Fenster, und ich starrte träumend auf den Lichtfleck zu meiner Linken. Ich träumte von der Kreisstadt, vierzig Werst von mir entfernt gelegen. Am liebsten wäre ich von meinem Revier dorthin geflüchtet. Dort gab es Elektrizität, dort waren vier Ärzte, mit denen man sich beraten konnte, auf jeden Fall war es nicht so beängstigend. Aber die Flucht war ganz unmöglich, und zuzeiten begriff ich selber, daß dies Kleinmut war. Weshalb hatte ich denn an der medizinischen Fakultät studiert? Nun, und wenn eine Frau mit einer komplizierten Entbindung gebracht wird? Oder vielleicht ein Patient mit einem eingeklemmten Bruch? Was mache ich dann? So ratet mir doch, bitte schön. Vor achtundvierzig Tagen habe ich das Studium mit Auszeichnung beendet, aber die Auszeichnung ist eines, ein Bruch aber etwas anderes. Ein einziges Mal habe ich gesehen, wie der Professor einen eingeklemmten Bruch operierte. Er machte die Operation, ich saß im Hörsaal. Das ist alles Der Gedanke an den Bruch jagte mir mehr als einmal kalten Schweiß die Wirbelsäule hinunter. Allabendlich, wenn ich mich an Tee satt getrunken hatte, saß ich in derselben Pose da: links von mir alle möglichen Nachschlagewerke über operative Geburtshilfe, obenauf der kleine Döderlein. Rechts von mir ein Dutzend Bände über Operationschirurgie mit Zeichnungen. Ich krächzte, rauchte, trank kalten schwarzen Tee. Dann schlief ich ein. Ganz deutlich erinnere ich mich an diese Nacht des 29. November. Ich erwachte von einem Gepolter an der Tür. Fünf Minuten später zog ich mir die Hose an und ließ dabei den flehenden Blick nicht von den göttlichen Büchern über Operationschirurgie. Vom Hof her hörte ich Schlittenkufen knirschen, meine Ohren waren hellhörig wie nie. Jetzt kam es wohl noch viel schlimmer, als ein Bruch es wäre, schlimmer als eine Querlage: Man brachte mir um elf Uhr nachts ein kleines Mädchen ins Krankenhaus Nikolskaja. Die Nachtschwester sagte dumpf: 'Das Kind ist schwach, wird wohl sterben. Kommen Sie ins Krankenhaus, Doktor.'

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