Beschreibung
Die junge Deutschtürkin Bahar ist tot. Alles schreit: Ehrenmord! Doch hat tatsächlich ihr Bruder sie auf dem Gewissen? Die Hamburger Sozialberaterin Ina begibt sich auf Spurensuche im "Problemviertel" Wilhelmsburg. Im Wechsel mit Bahars Großvater im nordtürkischen Heimatdorf der Familie erzählt sie eine Geschichte von Migration und Emanzipation. Dabei loten die beiden auch persönliche Abgründe aus, sehen sich mit eigenen Vorurteilen konfrontiert und gleichzeitig gezwungen, althergebrachte Denkweisen zu hinterfragen. Für frischen Wind und einige Überraschungen sorgt dabei die junge Generation mit oder ohne Migrationshintergrund.
Autorenportrait
Sabine Adatepe wurde 1963 in Hamburg geboren. Kurz vor dem Abitur verschlug es sie in die Migranten- und Flüchtlingsszene, wo sie Türkisch lernte und sich mehrere Jahre ehrenamtlich engagierte. Anschließend studierte sie Turkologie, Germanistik und Iranistik und begann als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache zu arbeiten. Seit 1990 übersetzt sie freiberuflich aus dem Türkischen, legte später auch die staatliche Prüfung als Übersetzerin ab. Nach einem kürzeren Aufenthalt in Köln/Bonn und einem längeren in Istanbul lebt sie seit 1999 wieder in Hamburg und verdient ihr Brot als literarische Übersetzerin. In der Jugend schrieb sie Lyrik und Kurzgeschichten, heute schreibt sie vor allem Rezensionen, Essays und Artikel zu interkulturellen Themen und führt ein literarisches Blog. Sie kuratiert und moderiert literarische Veranstaltungen und dolmetscht für türkische AutorInnen.
Leseprobe
Angefangen hatte alles damit, dass sie vor rund fünfzehn Jahren bei mir in den Deutschkurs gekommen war. Wie die meisten kam sie ohne Heft und Stift, konnte kaum schreiben, sagte die ersten Stunden kein Wort, auch nicht auf Türkisch. Dann taute sie auf und wurde regelrecht zur Plaudertasche. Sie kam nicht zum Deutschlernen, sie kam, weil sie hier unter Frauen war, mit denen sie zum Teil ein ähnliches Schicksal verband, mit denen sie reden, zweimal in der Woche an einem geschützten Ort Zeit verbringen konnte, über die sie niemandem Rechenschaft ablegen musste. Weder Mann, noch Schwiegermutter. Damals gab es im Wörterbuch der integrationsbeflissenen Nation noch keine Prüfungen nach bestimmten Lerneinheiten, Lernfortschrittskontrollen und wie das alles hieß. Der Veranstalter, wir Dozentinnen und auch die Frauen wussten, dass es nicht in erster Linie um das Erlernen der Sprache ging. Klar, das war ein schöner Nebeneffekt, wenn es denn klappte. Die meisten lernten etwas, einige viel, aber manche eben auch so gut wie nichts. Sie genossen einfach das soziale Beisammensein. Eine davon war Hüsniye. Es gab in diesen Kursen eine Art Seminar-Du; jetzt, im Büro der Sozialarbeiterin für Frauenfragen in unserer niedrigschwelligen Stadtteileinrichtung, siezte ich sie. Der Kurs lag fünfzehn Jahre zurück, noch immer radebrechte sie, zeigte ihre goldenen Zähne, wenn man sie darauf ansprach. "Bahar für mich machen", pflegte sie dann zu sagen und grinste. Bis vor wenigen Wochen. Bis Bahar starb. Ihre Tochter."Ehrenmord!" Ich stützte den Kopf in die Hände. Das Wort war Mutter und Sohn tausendfach um die Ohren geschlagen worden. Als der Junge verhaftet wurde, als die Nachbarn davon erfuhren, als Bahars Ausbilder davon hörten. Selbst Axel, mein sozialpädagogisch versierter Chef, hatte letztendlich mit den Schultern gezuckt und Songül, die mit allen Multikultiwassern der letzten zwanzig Jahre gewaschene Inhaberin der Stelle, auf der ich hier vertretungshalber saß, hatte ungewohnt resigniert die Hände in Schulterhöhe gehoben und gemurmelt: "Was soll man da noch machen?" Ehrenmord. Die Sache war doch klar: Bahar hatte sich ehrenrührig benommen, hatte sich heimlich mit dem Zivi aus dem Haus der Jugend getroffen. Der Bruder hatte sie einmal verwarnt, vielleicht auch zweimal, vielleicht auch keinmal, nein, so einer warnt nicht, der sticht gleich zu. Kennt man doch. Na ja, zugestochen hatte er nicht. Es hatte gebrannt, im Haus der Jugend, die Tür zum Materiallager war verschlossen, als es brannte. Bahar und der Zivi waren drinnen gewesen. Nun saß der Junge und schwieg zur Tat. Allen, denen sie begegnete, ob sie es hören wollten oder nicht, jammerte nun die Mutter vor: "Mein Junge wars nicht. Mein Junge hat das nicht getan " Der Polizeipsychologe sah keinen Betreuungsbedarf, der psychosoziale Dienst für Migranten hatte aufgegeben, bevor man sich der Sache richtig angenommen hatte. So saß Hüsniye also täglich ein paar Stunden bei mir im Büro. Jedes Mal bat sie mich, sie zu Hause besuchen, damit wir ungestört weiterreden könnten. Sie würde mir Tee kochen, wollte Subörei machen, sie wusste, dass ich diese arbeitsaufwändige Pastetenart besonders liebte, oder Sarma, gefüllte Weinblätter, sie kannte meine kulinarischen Schwächen genau. Höflich aber bestimmt lehnte ich ab. Einmal, zehnmal, hundertmal. Ich hatte diesen Job angenommen, befristet, als Vertretung, Frauensozialarbeit, ja, aber ich hatte gleich zu Beginn eine Bedingung gestellt: Ich besuche die Frauen nur im Ausnahmefall zu Hause und nur, wenn ich selbst es für richtig und unumgänglich halte. Diese Art von Klinkenputzen, oder netter gesagt Teestundenpalaver, lag mir nicht. []
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