Beschreibung
1974, als Genet und Tahar Ben Jelloun sich zum ersten Mal treffen, hat Genet längst nichts mehr gemein mit dem legendären Schriftsteller-Dieb, dem Heiligen und Märtyrer der 1950er und 60er Jahre. Er schreibt kaum noch und hat die Verbindung zu Sartre und Cocteau lange gekappt. Der politische Mensch Genet aber ist nach wie vor kreativ und ungezähmt. Leidenschaftlich engagiert er sich z.B. für die revolutionären Bewegungen der Black Panthers und der Palästinenser. In den folgenden Jahren, in denen Genet mal abtaucht, mal auftaucht, stößt er neue Projekte an und setzt sie wiederholt gemeinsam mit Tahar Ben Jelloun um: Interviews, Artikel, Drehbücher, Übersetzungen. Bei aller Aufruhr, die seine politischen Interventionen regelmäßig in der Öffentlichkeit auslösen, durchlebt Genet selbst immer wieder Phasen extremer Zweifel, die auf seine große emotionale Zerbrechlichkeit hinweisen. Und was der Öffentlichkeit in diesen Jahren gänzlich entgeht, ist, dass der zu dieser Zeit bereits schwer kranke Genet alle verbleibende Energie in sein letztes großes Werk investiert, das er unmittelbar vor seinem Tod im April 1986 abschließt: Ein verliebter Gefangener. Tahar Ben Jelloun zeichnet ein eindrucksvolles und bewegendes Porträt des geheimnisvollen und oft falsch verstandenen französischen Dichters Jean Genet. Gleichzeitig lässt sein Text die aufregenden und drängenden politischen und intellektuellen Debatten der ausgehenden 70er und frühen 80er Jahre wieder aufleben. Die Konflikte, um die es damals ging, sind im Grundsätzlichen so ungelöst wie damals.
Autorenportrait
Tahar Ben Jelloun (geb. 1944 in Fès) ist Schriftsteller und Psychotherapeut und gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der französischsprachigen Literatur aus dem Maghreb. Für sein Werk "Die Nacht der Unschuld" wurde er 1987 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Viele seiner Werke sind auf Deutsch erschienen, u.a. auch das für seine Tochter geschriebene Buch "Papa, was ist ein Fremder". Zuletzt erschienen auf Deutsch der Roman "Zurückkehren" und die sich mit der unmittelbaren Aktualität befassende Textsammlung "Arabischer Frühling".
Leseprobe
Seine Stimme Scharlachweiß, die Stimme von Jean Genet. Die Erinnerung an eine Stimme hat einen Farbton; Genets Stimme hatte etwas Leuchtendes und zugleich Schelmisches. Ich höre sie noch. Eine vom Tabak geformte Stimme, ein wenig heiser, fast weiblich, aber eine Stimme, die lächelt. Mit der Zeit ist sie dicht geworden, ruhig und immer anwesend, drängend. Es lag etwas Dauerhaftes in dieser Stimme, ein Ton, der nur wenig variierte. Er wurde nie laut und selbst wenn er zornig war, drückte sich seine Verärgerung nur in gewählten Worten aus. Das war von Natur aus so. Doch beim Schreiben hörte er seine innere Stimme, die sich von der öffentlich benutzten unterschied. Manchmal murmelte er oder betonte immer wieder manche Worte, um ihre Bedeutung besser zum Tragen zu bringen. Er unterstrich diese Worte mit präzisen Gesten als zeichne er Gesichter oder Körperhaltungen. Die Stimme der Lüge. Die Stimme der Wahrheit. Die rechtschaffene Stimme. Er wechselte ohne Vorwarnung von einer zur anderen. Er stellte sich so grob naiv, dass er Lachanfälle verursachte. Mehr als dreißig Jahre später ist seine Stimme mir noch deutlich in Erinnerung. Ich höre sie, ich reise zurück und lande an jenem sonnigen Frühlingstag, am 5. Mai 1974; ich war dreißig und er war so alt wie ich heute, wo ich dies schreibe, vierundsechzig. Über seine Schriften hinaus, zu denen ich oft zurückkehre, begleitet mich vor allem seine Stimme. Für mich ist es die Stimme eines echten Mannes, nicht die eines Lügners, Fälschers, Spielers oder Komödianten. Vor allem nicht die eines Heiligen. Er telefonierte mit mir und ich hatte Mühe, ihn mir vorzustellen. Ich hatte nur ein Foto von ihm mit den Black Panthers in den USA gesehen. "Ich heiße Jean Genet, Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie, ich habe Ihr Buch gelesen und möchte Sie kennen lernen. Haben Sie Zeit zum Mittagessen?" Ich war verblüfft: Das musste ein Witz sein. Was für eine verkehrte Welt! Ein Mythos der französischen Literatur lud mich ein, mich! Ich konnte es nicht fassen. Ich hatte vage von seinen Eskapaden, seinen Polemiken, seinen Skandalen und seinen verbotenen Theaterstücken gehört. Während ich zwischen 1970 und 1972 meinen ersten Roman, Harrouda, schrieb, hatte mich ein Freund auf das Tagebuch eines Diebes hingewiesen: "Lies es, es spielt in Tanger, einem Tanger, das weder du noch ich kennen." Tatsächlich war ich überrascht und fasziniert von der Erzählung dieses Mannes über seine Reise von Barcelona nach Tanger. Das Buch war für mich ein Schock, ein heilsamer, wunderbarer Schock. Jean Genet wollte mich kennen lernen! Selbstverständlich hatte ich Zeit! Ich hätte alles andere abgesagt.